OWEN
Mein Atem ging stoßweise und kam in weißen Wölkchen aus meinem Mund. Ich hatte vergessen, die Heizung anzustellen. Mein Herz schlug noch immer so schnell, dass ich fürchtete, es könnte seinen Dienst versagen. Das Zittern meiner Knie hatte dazu geführt, dass ich nur mühsam in den nächsten Gang hatte schalten können.
Ich richtete meinen Blick auf das Zimmer mit den weißen Vorhängen, das im oberen Stockwerk lag. Es brannte noch gedimmtes Licht und ich fragte mich, ob Kaylee auf dem Bett lag und wie immer in ihrem Rezeptbuch kritzelte. Ich sah sie förmlich vor mir, wie sie auf dem Bauch lag, die Beine in der Luft und ihr rotes Haar wie ein Umhang um ihre Schultern ausgebreitet.
Sobald ich die Augen schloss, kam es mir vor, als könnte ich ihren Erdbeer-Kaugummi-Atem riechen. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und mir fiel das Luftholen schwer, denn es fühlte sich an, als würde eine Schlinge um meinen Hals liegen, die sich langsam zuzog. Die Vorstellung, diesen Erdbeerduft nie wieder um mich zu haben, war kaum zu ertragen. Es kam mir völlig falsch und ungerecht vor.
Vor nicht einmal zwei Stunden hatte ich Kaylee hier abgesetzt, hatte sie geküsst, so leidenschaftlich und erfüllt von dem vorangegangenen Tag, den wir am See verbracht hatten. Es war ein traumhafter Tag gewesen und wir waren uns so nah wie nie zuvor gewesen. Endlich hatte ich mich getraut, sie zu ihrem Abschlussball einzuladen. Meine größte Sorge war gewesen, wie ich genug Kohle zusammenkratzen konnte, um mir einen Anzug zu leihen. Ich lachte bitter auf. Warum nur war all das geschehen? Warum wurde mir das einzig Gute in meinem Leben genommen?
„Weil du den Teufel in dir trägst“, raunte mir eine innere Stimme zu. Tränen brannten in meinen Augen und mein Blick fiel auf meine Hände, die sich so fest um das Lenkrad klammerten, dass meine Knöchel knackten. Blut. So viel Blut haftete an ihnen. Mein Atem stockte und Panik packte mich im Genick, dass ich instinktiv einen Blick in den Rückspiegel warf, als erwartete ich, meinen Angreifer dort vorzufinden. Dabei hatte es vorhin nicht so ausgesehen, als könne er mich in absehbarer Zeit verfolgen. Genau genommen war ich mir nicht einmal sicher, ob er es je wieder tun konnte. Ich schluckte.
Mit nur einem Schlag hatte sich dieser wundervolle Tag in einen Albtraum verwandelt. Nie war mir klarer gewesen, wie abgrundtief schlecht ich in den Tiefen meines Herzens war. Verkommen. Verdorben. Und Kaylee – meine wunderschöne, gutherzige Kaylee – war das komplette Gegenteil von mir. Sie war das Licht, wenn ich der Schatten war, und niemals war mir mehr bewusst gewesen, dass sie zu gut für mich war. Ich durfte sie nicht mit in diesen Abgrund ziehen, vor dem ich stand. Dafür liebte ich sie viel zu sehr.
Ich würde gehen. Ich musste gehen. Nicht nur aus Angst vor den Konsequenzen, die dieser Abend und das, was ich getan hatte, nach sich ziehen würde. Ich musste sie beschützen. Vor mir. Vor dem Bösen, das in mir schlummerte.
Ein letztes Mal warf ich einen sehnsüchtigen Blick hinauf zu dem hell erleuchteten Zimmer und holte tief Luft. Ich brauchte einen Schubs, einen Wink des Schicksals, dass ich das Richtige tat.
Das Piepsen meines Handys durchbrach die Stille. Kaylees Name stand auf dem Display und ich schloss gequält die Augen. Ich startete den Wagen, der zu meiner Überraschung sofort ansprang, und fuhr los. Auf halber Strecke durch die Stadt kurbelte ich das Fenster runter und warf mein Handy hinaus, ohne Kaylees Nachricht zu lesen.
Mir war klar, dass sie die Einzige war, die mich dazu bewogen hätte, hierzubleiben. Sie war der alleinige Grund, warum ich überhaupt so lange in diesem Vorort der Hölle überlebt hatte. Der Schmerz kam in Wellen und drohte, mich unter Wasser zu ziehen, als ich das Schild von Bakers Valley passierte. Doch das Blut, das an meinen Händen klebte, war wie ein Mahnmal. Es erinnerte mich daran, das zu tun, was nötig war, damit Kaylee das Leben führen konnte, das sie verdient hatte. Und vielleicht, nur vielleicht, würde ich etwas finden, das mir half, mich über Wasser zu halten und vor dem Ertrinken zu bewahren.
Elf Jahre später
OWEN
Mit jeder Meile, die ich mich Bakers Valley näherte, nahm der Druck auf meiner Brust zu. Das Atmen fiel mir zunehmend schwerer, sodass ich die Fenster öffnete. Angenehm warme Luft drang ins Auto hinein und vertrieb den Geruch der neuwertigen Ledersitze meines Leihwagens. Die nervtötende Radiomusik und die flachen Kommentare der Moderatoren, die über ein mutiges Mädchen aus Schweden ihre Witze machten, wurden vom Rauschen des Fahrtwindes übertönt. Gott sei Dank. Obwohl ich ihnen ohnehin nicht richtig zugehört hatte, weil die Gedanken in meinem Kopf rasten und dadurch alles, was um mich herum geschah, in den Hintergrund zu rücken schien. Sogar der atemberaubende Anblick der ‚Going-to-the-Sun Road‘, die jedes Jahr aufs Neue unzählige Touristen anlockte, konnte mich nicht ablenken.
Die Straße galt als Sehenswürdigkeit des Glacier-Nationalparks, weil sich die Natur hier von ihrer atemberaubendsten Seite zeigte. Aus Sicherheitsgründen war sie nur in den Sommermonaten geöffnet. Aufgrund der unzähligen Haarnadelkurven und unübersichtlichen Stellen durfte man die Gefahr der Straße nicht unterschätzen. Mich hielt das jedoch nicht davon ab, diesen Anblick auf meinem Höllenritt in die Vergangenheit mitzunehmen. Es gab bestimmt schlimmere Arten zu sterben, als mit dieser Aussicht in den sicheren Tod zu stürzen. Trotz dieses Panoramas fühlte ich mich seltsam leer und ausgebrannt, was, neben meinem momentanen chaotischen Gefühlszustand, zweifellos an meiner schlechten körperlichen Verfassung lag.
Ich rollte meine schmerzende Schulter. Die OP lag mittlerweile fast drei Monate zurück und trotzdem machte mir die Verletzung noch immer Ärger. Der Check von dem Stürmer der Capitols während meines ersten Spiels nach der langen Reha-Pause steckte mir wohl auch noch in den Knochen.
Ich ließ die Panoramastraße hinter mir und hielt mich Richtung Süden. Ich drückte meinen Fuß nicht ganz so fest auf das Gaspedal, um das Unvermeidliche noch etwas hinauszuzögern. Das Schnurren meines Leihwagens, einem Dodge Challenger, konnte meine Nerven auch nicht beruhigen. Das Ortsschild mit der Aufschrift ‚Bakers Valley‘ erschien in meinem Blickfeld und mein Magen rebellierte bei diesem Anblick. Ich hatte mir einst geschworen, nie wieder zurückzukehren. Aber wie war das mit den guten Vorsätzen?
Ehe ich mich versah, hatte ich die imaginäre Schwelle meines Heimatorts überfahren. Eine winzige malerische Kleinstadt am Fuße der Rocky Mountains, umgeben von den endlosen Wäldern, Flüssen und Seen. Für unzählige Menschen war dieser Ort der Inbegriff von Erholung. Meine Abscheu hingegen war selbst heute noch ungebrochen. Mein Auge erfasste zwar die optischen Vorzüge, doch mit jeder Meile, die ich tiefer in dieses Provinznest vordrang, wurde mir schlechter. Wobei die Übelkeit auch auf das ausgefallene Abendessen und Frühstück zurückzuführen sein könnte.
Für mich stand dieses Kaff vor allem für Menschen, die nicht davor zurückschreckten, all die kleinen und größeren schmutzigen Geheimnisse des anderen hervorzukramen und auszuschlachten. Vor allem die meiner Familie – zumindest war es mir so vorgekommen. Ungeduldig schlug ich mit der Faust auf das Lenkrad meines Leihwagens und starrte auf die Bahnschranke, die zu meinem Leidwesen noch immer existierte, in diesem Augenblick heruntergelassen wurde und jeglichen Transfer in die kleine Stadt erschwerte. Es war wie verhext, ganz so als wolle sie Einheimische daran hindern, zu fliehen, und Fremde davon abhalten, hineinzugelangen.
Ich war weder fremd noch einheimisch, vielleicht machte sie ja für mich eine Ausnahme? Schon damals, als ich gezwungen gewesen war, in diesem Provinznest auszuharren, hatte dieser Bahnübergang jeden in den Wahnsinn getrieben. Mich eingeschlossen. Nach einigen Minuten stand ich jedoch noch immer an derselben Stelle, obwohl kein einziger Zug vorbeigefahren war. Mittlerweile hatte ich den Motor abgestellt und überlegte, ob ich die Zeit für ein Nickerchen nutzen sollte. Das würde mir nach der schlaflosen Nacht, die auf den gestrigen Anruf gefolgt war, zweifellos guttun. Doch wie ich mein Glück kannte, würde die Schranke sich genau in dieser Zeit öffnen. Wahrscheinlich war der Mechanismus wieder mal kaputt.
Seufzend sank ich im Sitz zusammen und lehnte meine Stirn auf das Lenkrad. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde die Verlockung, einfach umzukehren, größer. Ich hasste diesen Ort! Eine scharfe Erinnerung durchzuckte mich und plötzlich fühlte mein Kopf sich derart schwer an, dass ich glaubte, mich gar nicht mehr rühren zu können. Das Schlimmste, was ich dieser Stadt vorwerfen konnte, war, dass sie meine Vergangenheit enthielt.
Nach all den Jahren hatte ich gedacht, dass ich sie hinter mir gelassen hätte, doch das war wohl ein Irrtum gewesen. Zumindest hatte eine einzige Nachricht auf meinem Anrufbeantworter meine neu geordnete Welt über mir zusammenbrechen lassen und mir vor Augen geführt, dass man vor seinen eigenen Dämonen niemals fliehen konnte – egal wie schnell man auch lief. Und ich war schnell gelaufen, mein ganzes verdammtes Leben lang. Ein Grund, warum ich mich auf dem Eis so wohl fühlte. Ich liebte das Tempo und die nie enden wollenden Runden, die ich darauf drehen konnte.
Erneut durchzuckte ein scharfer Schmerz meine Schulter, als wollte mein Körper mich daran erinnern, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt war. Nicht mal mein Job, mein Lebensinhalt. Die aufsteigende Angst kroch mir in Form von Magensäure die Speiseröhre hinauf und ich hatte das Gefühl, als ätzte sie sie weg.
Ein letztes Mal starrte ich die Schranke grimmig an, in der Hoffnung, mein Killerblick, der schon so manchen Gegenspieler in die Knie gezwungen hatte, würde sie einschüchtern. Fehlanzeige. Sie rührte sich nicht, als wollte sie mich verhöhnen. Womöglich würde ich hier vor Langeweile sterben, oder weil mich ein irrer Serienkiller schlafend im Auto vor der Schranke vorfinden und seine Gelegenheit nutzen würde, um mich von meinem Elend zu befreien. Wenigstens würde mich das dann vor der Schmach bewahren, zurückzukehren. Warum tat ich mir das überhaupt an? Wollte mir womöglich jemand ein Zeichen schicken?
Lautstarkes Hupen ließ mich zusammenzucken. Mein Kopf fuhr so heftig hoch, dass ich mit Wucht meine Stirn gegen die Sonnenblende stieß und lautstark fluchte. Diese kleinen Sportwagen waren einfach nichts für meine Körpergröße. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah einen weißen Transporter an meiner Stoßstange kleben. Alles, was ich durch die Spiegelung der Scheibe erkennen konnte, war eine wild gestikulierende Person auf dem Fahrersitz. Das Hupgeräusch ebbte nicht ab. Da musste jemand aber wahnsinnig aufgebracht sein.
Mit quietschenden Reifen wurde der Wagen an meinem vorbeigelenkt. Ungeachtet des riskanten Manövers kam der Wagen neben meinem zum Stehen und ich erkannte durch das heruntergelassene Beifahrerfenster eine Frau mit wilder roter Lockenmähne, die mir wahnsinnig bekannt vorkam. Sie deutete ungeduldig Richtung Schranke, die mittlerweile geöffnet war, ehe sie mir anschließend den Mittelfinger zeigte und mit Vollgas losfuhr und über die Bahnschienen brauste.
Fassungslos starrte ich ihr hinterher und konnte kaum glauben, was gerade geschehen war. Manche Dinge änderten sich wohl nie. Die schlechteste Autofahrerin aller Zeiten hatte auch nach all den Jahren nicht gelernt, Auto zu fahren. Und zum ersten Mal, seit ich mich hierhin auf den Weg gemacht hatte, regte sich etwas in meinem Inneren. Etwas, das ich längst verdrängt hatte und mir nun ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Sofort erlosch es wieder. Bevor ich losfuhr, strich ich über mein Handgelenk und über das Schmetterlings-Tattoo. Zweifellos würde es kein Spaß werden, auf die Einwohner von Bakers Valley zu treffen.
* * *
KAYLEE
„Tut mir leid, Miss Manning, Sie kommen zu spät“, erklang die ernüchternde Antwort des Hotelmanagers auf meine hoffnungsvolle Frage, ob das Brautpaar, mit dem ich vor über einer halben – ich warf einen Blick auf die Uhr –, nein, sogar Dreiviertelstunde verabredet gewesen war, noch da war.
Ich schloss gequält die Augen, klammerte mich an die Kühltasche in meinen Armen, in denen sich die Probetörtchen der Hochzeitstorte befanden, für die ich die halbe Nacht in der Küche gestanden hatte, und seufzte.
„Verdammt!“, entfuhr mir impulsiv der einzige Fluch, den ich mir als Mom erlaubte, weil ich ihn auch in der Gegenwart meiner Tochter über die Lippen brachte. Der Gast in seinem maßgeschneiderten Anzug, der gerade hinter dem Kellner vorbeiging, wechselte einen mitleidigen Blick mit ihm. Wo zum Teufel war das verdammte Mauseloch, wenn man eins brauchte? Spätestens jetzt galt ich also als absolute Versagerin des Ortes. Ach, was dachte ich da? Des ganzen Staates Montana. Kaylee Manning, die Frau, die es nie schaffte, pünktlich zu sein, auf Pasta zu verzichten, einen Ton zu halten oder auch nur irgendwas in ihrem Leben auf die Kette zu kriegen. Die alleinerziehende Mom, die immer auf die falschen Kerle hereinfiel und kaum eine Straße entlangfahren konnte, ohne einen Autounfall mit lächerlichem Blechschaden zu verursachen. Ehrlich? Ich war bemitleidenswert. Das war eine Tatsache.
Der einzige Grund, warum mir die Einwohner von Bakers Valley nicht mit gerümpfter Nase begegneten, war Clark Manning. Angesehener Einwohner, einziger Hausarzt und mein Vater. Im Gegensatz zu ihm war ich eine glanzlose Enttäuschung. Das schwarze Schaf der Familie, das nur dank der Extravaganz meiner Tante Margie, die noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, nicht ganz so sehr im Vordergrund stand.
Niedergeschlagen machte ich auf dem Absatz kehrt und schulterte meine Tasche. Klirr. Ein lautes Scheppern schrillte durch die Empfangshalle des einzigen Sterne-Hotels, das Bakers Valley zu bieten hatte, und unfreiwillig zog ich sämtliche Aufmerksamkeit auf mich.
Shit! Der mit Sicherheitsnadeln notdürftig geflickte Henkel meiner Handtasche hatte ausgerechnet in diesem Moment entschieden, all seine Lebensgeister aufzugeben, damit sich der Inhalt meiner Tasche um meine Füße entleeren konnte. Quasi eine Zusammenfassung meines gesamten chaotischen Lebens. Neben meinem Terminkalender, Sonnenbrille und Brieftasche rollten plötzlich Tampons, Kugelschreiber, ein halb abgekauter und ungenießbarer Müsliriegel, herrenlose Fussel und ein paar Cents über den Boden. Meine Gesichtsfarbe hatte von unattraktiver Kellerbräune zu unübersehbarem Feuermelderrot gewechselt, zumindest verriet mir das der gewienerte Marmorboden, in dem ich mich spiegelte.
Ich spürte all die Blicke auf mir, während ich mich nach all dem Schrott bückte und versuchte, ihn möglichst schnell vom Boden aufzulesen. Wieso geschah so was eigentlich immer mir? Ich verlor den letzten Rest Contenance, den ich aufbringen konnte, ignorierte die unschönen Müsliriegelreste und hastete ohne Abschiedsgruß aus dem Hotel, die Kühltasche in der Hand und die bedauernswerten Überbleibsel meiner Handtasche unter dem Arm.
Ich ignorierte eine Frau, die mir etwas hinterherrief. Normalerweise war ich die freundlichste Person aller Zeiten, doch ich fürchtete, wenn ich den Mund zu einem Gruß oder einem schlichten Atemzug öffnete, bräche ich entweder in Tränen oder hysterisches Gelächter aus. Unter Umständen würde man glauben, ich litt am Tourette-Syndrom. Das klang vermutlich theatralisch, vor allem für mich, denn ich galt gemeinhin als Kämpferin. Wie der Phönix, der aus der Asche aufersteht, oder eine unabhängige Amazone, die über das leergefegte Schlachtfeld reitet, geradewegs auf die Armee meines Feindes zu. Ich stellte mir das zumindest gern vor, dass die Leute das von mir und meinen stümperhaften Versuchen dachten, mich durch das Leben zu kämpfen. Vielleicht sollte ich aber auch einfach aufhören, Abenteuerfilme zu schauen oder so viel Zucker zu mir zu nehmen. Doch nach dem heutigen Tag war mir nur noch nach Heulen zumute. Und zwar nicht auf diese schicke, niedlich feminine Art, für die man nur ein Taschentuch zum Augenwinkelbetupfen brauchte, nein, sondern aus voller Inbrunst, bei der sich sämtliche Körperflüssigkeiten und Make-up-Reste auf meinem Gesicht zu einer wilden Farbvielfalt verbanden. Diese erneute Erniedrigung in der Öffentlichkeit wollte ich mir jedoch um jeden Preis ersparen. Deswegen fasste ich mein Ziel - meinen klapprigen weißen Wagen - ins Auge, schenkte keiner Menschseele um mich herum einen Blick und sah stur geradeaus.
Der Weg zu meinem Wagen kam mir unendlich lang vor. Jeder Schritt auf meinen hochhaushohen Pumps schmerzte und ich verfluchte mich im Stillen dafür, ausgerechnet heute diese Treter angezogen zu haben. Der Anblick des Deputys, der vor meinem Wagen stand und eifrig etwas auf einem Block notierte, schockte mich kaum noch. Es passte zum Rest dieses Tages, der zwar erst vor wenigen Stunden begonnen hatte, mir aber dennoch wie eine Ewigkeit vorkam. Ich hätte im Bett bleiben sollen.
„Was ist los?“, fragte ich und suchte verwirrt die Straße nach einem Verkehrsschild ab, das ein Halteverbot anzeigte. Darauf hatte ich in der Hektik tatsächlich nicht geachtet. Es war jedoch keins zu sehen.
„Sie haben einen defekten Scheinwerfer“, verkündete er in einem Tonfall, als sei das wohl offensichtlich und ich nicht ganz dicht. Der Deputy schien frisch von der Polizeischule zu sein, denn seine Marke glänzte wie frisch poliert, genauso akribisch gepflegt wie sein gebügeltes und gestärktes Hemd und die mit Bügelfalte versehene Hose. Er war blutjung, viel zu jung jedenfalls für den Oberlippenbart, den er offenbar züchtete. Jemand sollte ihm dringend sagen, dass ihm das bisschen Bart nicht stand. Jemand, der nicht ich war.
„Was Sie nicht sagen“, entschlüpfte es mir schnippisch und ich ermahnte mich, nicht mehr den Mund zu öffnen, um weiteren Ärger zu vermeiden. Meinen Dad aus dem Knast anzurufen, um ihn zu bitten, mich rauszuholen, hatte ich in achtundzwanzig Jahren erfolgreich umgangen. Das sollte möglichst auch so bleiben.
„Wissen Sie nicht, dass Sie verpflichtet sind, solch einen Schaden reparieren zu lassen? Immerhin gefährden Sie damit andere Verkehrsteilnehmer und sich selbst.“
„Das ist gerade eben erst passiert“, hörte ich mich schwindeln und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Wann hätte ich bitte die Zeit haben sollen, es reparieren zu lassen?“, verwarf ich meinen gerade eben erst gefassten Entschluss wieder, den Mund zu halten. Ohne mich und meinen Einwand zu beachten, schrieb er weiter, riss schließlich den Wisch ab und hielt ihn mir vor die Nase.
„Haben Sie mich nicht gehört? Es ist auf dem Weg hierher passiert.“
„Natürlich“, sagte er spöttisch. „Das behaupten sie alle.“
Empört schnappte ich nach Luft und weigerte mich, den Zettel anzunehmen.
„Ach du bist es, Kaylee“, ertönte eine Stimme, gefolgt von dem Zuschnappen einer Autotür. „Lass gut sein, Heath.“
Es war Will, der wie immer kauend aus dem Wagen gestiegen war, lässig seine Hose hochzog und Donutkrümel von seinem braunen Hemd strich.
„Aber Chief, sie hat einen defekten Scheinwerfer.“
„Glaub mir, das wird nicht der einzige Makel an dem Wagen sein, den du finden wirst, wenn du genauer hinsiehst.“ Ich errötete. „Und damit hat Miss Manning schon alle Hände voll zu tun.“ Ein amüsierter Zug erschien um seine blauen freundlichen Augen, die von einem Netz feiner Fältchen umgeben waren. Sein einst dunkler, mittlerweile fast komplett ergrauter Schopf steckte unter einem Hut, der sein wettergegerbtes Gesicht nur dürftig vor der Sonne schützte.
„Ich habe den Strafzettel bereits geschrieben.“
„Mhm, wenn das so ist.“
Ich kniff die Augen zusammen. „Was ist das da eigentlich für ein Fleck auf deinem Hemd? Ist das etwa Burgersauce? Und den Zucker der Donuts solltest du besser aus deinem Schnurrbart wischen, bevor Miranda dich so sieht.“
„Was?“, rief Will alarmiert und sah hektisch an sich hinunter. Nachdem er keine Essensspuren auf seinem Hemd fand, schaute er in mein Gesicht und bemerkte mein zuckersüßes Lächeln.
„Erwischt“, sagte ich triumphierend.
„Du bist zweifellos die teuflischste Verkehrssünderin, die Bakers Valley zu bieten hat“, entfuhr es ihm mürrisch. „Komm, Heath, vergiss diesen Wisch. Wir fahren weiter, um echte Verbrecher zu fangen.“
„Denkst du, da wirst du heute fündig?“, fragte ich amüsiert.
Will grinste und lief auf den Wagen zu. „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Falls du Miranda triffst … du hast mich nie gesehen.“
„Ich werde mich hüten, etwas anderes zu behaupten.“
„Bist du morgen früh wieder bei Sue’s?“
Ich verdrehte belustigt die Augen und nickte. Will konnte es einfach nicht lassen, all dieses ungesunde Zeug in sich reinzustopfen. Kurz bevor er einstieg, schaute er zu mir zurück. „Komm bald mal wieder mit Molly zum Barbecue vorbei, okay?“
„Suchst du etwa nur einen weiteren Vorwand, Unmengen rotes Fleisch in dich hineinzustopfen?“
„Vielleicht.“ Er zuckte mit den Achseln. „Eigentlich möchten wir euch bloß bald mal wiedersehen.“ Ich nickte zustimmend und bedeutete ihm mit einer Geste, dass wir telefonieren und was ausmachen würden. Es hatte durchaus seine Vorteile, in einer Kleinstadt wie dieser zu leben. Man kannte jedes noch so gut gehütete Geheimnis seiner Mitmenschen und ich zögerte nicht, sie gegen sie einzusetzen. Zumindest an Tagen wie diesen.
Ich wartete, bis der Sheriff-Wagen weiterfuhr, ehe mein gezwungenes Lächeln erstarb und ich die Reste meiner Tasche und die Kühltasche mit den Tortenschachteln unsanft auf den Beifahrersitz warf. Ich stöhnte beim Anblick meiner krausen Lockenmähne, als ich mein Spiegelbild in der Scheibe der Fahrertür entdeckte, ehe ich mich erschöpft in mein Auto sinken ließ. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für Mai, dabei war es nicht mal Mittag. Die Luft stand, es wehte kaum ein Lüftchen.
Ich lehnte mich in meinen Fahrersitz zurück, holte tief Luft und strich durch meine nicht vorhandene Frisur. Obwohl ich mir am Morgen so viel Mühe gegeben hatte, meine Mähne, die ständig vorgab, Kontakt mit einer Steckdose gehabt zu haben, für den Termin mit dem Hochzeitspaar zu bändigen, war alles für die Katz gewesen. Der frische Fahrtwind, der durch die zwangsläufig geöffneten Fenster hineingeweht war, hatte meine Arbeit mit dem Glätteisen im Nu zunichtegemacht. Ich verfluchte Jim, den Klempner, der es mir mit seiner horrenden Rechnung für den reparierten, aber immer noch tropfenden Wasserhahn unmöglich gemacht hatte, meine Klimaanlage im Auto reparieren zu lassen.
„Warum bist du nicht einfach wieder ins Bett gegangen?“, murmelte ich meinem Spiegelbild zu. Genau das hätte ich nämlich in dem Moment, als die Kaffeemaschine nur ein erschöpftes Röcheln von sich gegeben hatte, tun müssen. Die Tatsache, dass ich Mutter war, sorgte stets dafür, dass ich zu wenig Zeit hatte, mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Die unverbesserliche Optimistin in mir hatte mich hoffen lassen. Hoffen, dass dieser Tag auch ohne die dringend benötigte Zufuhr von Kaffee und Schlaf mir den Auftrag bescheren würde, den ich so dringend benötigte, damit unser Leben sich ein wenig vereinfachte. Doch dann war etwas geschehen, dass man nur mit dem Schmetterlingseffekt vergleichen konnte. Dazu war ich verschwitzt und trug eine Pudelmähne. Großartig.
Aber, wie meine Tante Margie immer sagte: „Eine echte Manning gibt niemals auf!“
Wenn es danach ging, müsste ich mittlerweile grün angelaufen sein und Shorts in Kindergröße tragen, während sich mein restlicher Körper in eine Mutation verwandelte. Ich zog meine Handtasche zu mir heran und kramte mein Handy hervor. Glücklicherweise hatte es den Sturz aus meiner Handtasche unbeschadet überlebt. Weitere Reparaturkosten würden mich in einen finanziellen Ruin treiben.
Ich warf einen Blick auf das Display und atmetet durch. Keine Anrufe von Mollys Schule. Uff! Die momentan üblichen Bauchschmerzen meldeten sich, wenn ich an meine wunderbare, starrköpfige und derzeit ziemlich griesgrämige Tochter dachte. Ich schielte zur Kühltasche hinüber, in der diese hervorragenden Probetörtchen steckten, und schüttelte vehement den Kopf. Ich sollte wirklich nicht zugreifen, immerhin hatte ich die Knöpfe meiner Bluse heute Morgen nur mit Ach und Krach zubekommen, was eindeutig ein Resultat der vergangenen stressigen Wochen mit all dem Fast Food Essen und dem Heißhunger auf Schokolade war. Das klang so vernünftig, logisch und erwachsen. Allein deswegen verwarf ich den Gedanken gleich wieder. Außerdem hatte ich diese Törtchen mit solch einer Perfektion und Liebe gezaubert, dass es einem Verbrechen gleichkommen würde, sie verkommen zu lassen.
Ich seufzte und beugte mich kurzentschlossen nach hinten zur Rücksitzbank, auf der unzählige Sportklamotten von Molly herumlagen, zwischen denen ich einen der Löffel von unserem Besuch bei Dairy Queen in der letzten Woche fand. Ich rümpfte die Nase bei seinem Anblick und zuckte schließlich mit den Achseln. Irgendwo hier musste ich auch noch eins dieser verpackten Hygienetücher haben.
Ich schüttelte den Kopf über das schlechte Gewissen, das sich in mir breitmachte, und schob meine Sorgen um die zusätzlichen Kilos zur Seite. Dann stach ich den gesäuberten Löffel vorsichtig in das Mousse-au-Chocolat-Törtchen hinein und freute mich über die perfekte Konsistenz. Das Knacken der zarten Schokoladenschichten erfüllte meinen Magen mit Vorfreude. Ich steckte mir den Löffel in den Mund, meine Lippen schlossen sich genüsslich darum und die Schokoladencreme mit dem leichten Trüffelgeschmack zerging mir auf der Zunge. Ich war im Himmel! So musste es sein. Ein Jammer, dass niemand außer mir von der Perfektion erfahren würde. Kurzentschlossen tippte ich die Kurzwahl für die einzige Person, der ich mit Unterstützung der Endorphin-Welle von meiner Vollkatastrophe erzählen wollte.
Ethan ging erst beim fünften Klingeln ran und klang ungewöhnlich außer Atem, als wäre er gerade in den sechsten Stock irgendeines Hochhauses gesprintet. Wobei er im Gegensatz zu mir derart gut in Form war, dass diese simple körperliche Betätigung ihm nicht das Geringste anhaben konnte. „Hey, Kay. Wie begeistert waren sie von dir, deinem Outfit und vor allem diesen Törtchen?“
„Sie haben sie nicht mal gekostet“, jammerte ich drauflos und hörte, wie Ethans Stimme plötzlich lauter wurde, als käme er dem Mikrofon näher, weil er wahrscheinlich das Handy zwischen Schulter und Ohr presste.
„Nicht dein Ernst? Was hast du diesmal wieder angestellt?“
Ich holte tief Luft und schluckte meine Empörung über seine Vermutung weitestgehend hinunter. Es gab niemanden, der mich und mein chaotisches Leben besser kannte. Deswegen war seine Vermutung keineswegs von der Hand zu weisen und leider auch nur allzu wahr.
„Zuerst war ich spät dran, weil ich eine Ewigkeit im Bad gebraucht habe. Dann war die Kaffeemaschine kaputt. Molly hatte Erdnussbutter auf ihrem Great Falls Vayagers Shirt, was einen Tobsuchtsanfall zur Folge hatte und damit endete, dass sie wutentbrannt zum Bus gelaufen ist und ihren Handschuh vergessen hat …“
„Fuck“, entfuhr es ihm atemlos. Dafür liebte ich ihn, denn ich brauchte meinem Freund nicht zu erklären, warum allein diese Tatsache wichtig genug war, dass ich trotz der Gefahr, diesen ungeheuer lukrativen Auftrag in den Sand zu setzen, dem Bus meiner Tochter zur entfernten Schule nachgefahren war, um ihr einen verdammten Baseballhandschuh zu bringen. Nur um im Anschluss wie eine Verrückte zurückzurasen und dabei einen Touristen zu beschimpfen, wie es eigentlich nicht meine Art war. Beschämt betrachtete ich mich im Rückspiegel meines Autos und schloss erneut die Augen.
„Ich bin fürchterlich“, murmelte ich niedergeschlagen. Ja, ich war eine ganz furchtbare Person, die jetzt im nicht klimatisierten Auto saß, die Probier-Törtchen für das Brautpaar aufaß, das mich sicherlich nicht beauftragen würde, ihre Dreitausend-Dollar-Torte zuzubereiten, und ihrem besten Freund etwas vorjammerte, während er weiß Gott was tat.
Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr Ethan, ehe er sagte: „Du bist nicht furchtbar, sondern die beste Mutter der Welt, Kay.“
Ich seufzte beim nächsten Löffel der köstlichen Torte. Außerdem war ich ein Ausnahmetalent, wenn es um Kuchen ging. Und zwar nicht nur darin, ihn zu essen, sondern vor allem darin, welchen zu backen. Das hatte sicher etwas damit zu tun, dass ohnehin jede Hoffnung, jemals wieder in mein Cheerleader-Kostüm zu passen, aussichtslos war.
„Du bist süß, danke. Es ist halt ein typischer Montag. Und was zur Hölle tust du eigentlich?“, entfuhr es mir skeptisch, als ich ein gedämpftes Flüstern vernahm.
„Ich?“, fragte Ethan scheinheilig und mir schoss sofort die Röte ins Gesicht. Er hatte doch nicht etwa gerade …
„Ethan? Wer ist bei dir?“, fragte ich mit der Oberlehrerinnen-Stimme meiner Mutter, die ich dank reichlicher Wiederholungen in meiner Kindheit perfekt imitieren konnte.
„Bei mir?“ Der Klang seiner Stimme hätte nicht verräterischer sein können.
„Ethan! Du hast doch nicht gerade Sex, während du mit mir telefonierst?“, fragte ich fassungslos.
„Ähm … nicht direkt“, räumte er ein. „Genau genommen steht uns der reine Geschlechtsakt noch bevor.“
„O Ethan!“, schrie ich entsetzt.
„Was denn? Das war nicht geplant. Ich bin zur Schule gefahren, um … einen Kaffee mit Marc zu trinken. Und da hat sich rausgestellt, dass er gerade eine Freistunde hat und …“
„Lass mich raten, der Kaffee ist mittlerweile kalt.“
„Wir kamen nicht mal in die Mensa.“
„Ethan, du bist unmöglich. Wie kannst du nur in so einer Situation ans Telefon gehen?“
„Ich weiß doch, wie wichtig das Treffen heute Morgen war. Außerdem rufst du mich doch auch gerade an, während du deiner Sucht nachgehst, oder etwa nicht?“
„Ich?“, fragte ich empört.
„Isst du etwa nicht gerade deine Probier-Törtchen auf?“
Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Woher zum Teufel wusste er das? Hatte er etwa Kameras in dieses Auto gebaut? Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete ich: „Ethan, wir legen jetzt auf. Ich bin nicht scharf darauf, dir beim nächsten Orgasmus zuzuhören. Lass uns später reden, okay?“
„Da sprach der Neid. Dir würde ein Orgasmus auch guttun.“
„Um Himmels Willen, Ethan!“
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr und erstarrte.
„Heilige Scheiße“, entfuhr es mir, wobei mir mein Handy aus den Fingern glitt, in die Untiefen meines Wagens fiel und Ethans Stimme nur noch gedämpft, wenn auch alarmiert, durch das Wageninnere hallte. Ich starrte den Mann an, der mich genauso geschockt anschaute und einen seltsamen Blick auf meine Törtchen warf. O mein Gott! Das konnte unmöglich wahr sein.
Ich musste mich in Schockstarre befinden, denn mein Hirn gaukelte mir vor, dass ich diese Augen und diesen Mund sehr genau kannte. Zu genau. Das war unmöglich.
Er bedeutete mir, das Fenster runterzulassen, und trat zwei Schritte zurück. Dann lehnte er seinen Rücken an ein Auto, das mir ebenfalls bekannt vorkam. Es war ein rotes Model und es sah genauso aus wie der Wagen, den ich vor nicht mal einer Stunde am Bahnübergang so rüde überholt hatte. O. MEIN. GOTT.
Mit Mühe und wild klopfendem Herzen kurbelte ich das Fenster runter und blickte langsam an seinem Körper hinauf. Er trug Boots, hatte lange muskulöse Beine, die in einer Jeans steckten, die an seinem Schritt recht eng saß. Das weiße Shirt spannte sich um seine breite Brust und die starken durchtrainierten Arme. Seine Haut war mit unzähligen Tattoos verziert. Die waren neu, aber dennoch … Er war es. Die dunklen Augen mit dem melancholischen Ausdruck darin und dieses Lächeln. Sein unwiderstehliches, einzigartiges und jeden in seinen Bann ziehendes Lächeln.
Gebannt starrte ich ihn an. Nach all den Jahren hatte er sich kaum verändert. Abgesehen von der zusätzlichen Muskelmasse, die er sich angeeignet hatte, und den nur zu erahnenden Lachfältchen um seine Augen sah er genauso aus wie früher. Nein, er war sogar noch heißer als damals, musste ich mir eingestehen.
„Owen?“, fragte ich mit ungewöhnlich brüchiger Stimme. Dieser Tag hielt eindeutig zu viele Überraschungen bereit.
„Owen?“, echote Ethans dumpfe Stimme aus dem Fußraum, die ich geflissentlich ignorierte.
„Kaylee Manning … Ich dachte mir schon, dass ich diesen Fahrstil und diese Lockenpracht von irgendwoher kenne.“
„Ich … Das war dein Wagen?“ Ich schluckte gegen den Kloß in meinem Hals an. Das war eindeutig zu viel für mich. Wie konnte dieser Tag kontinuierlich schlimmer werden?
Er nickte und sah mich erwartungsvoll an, als würde er es in vollen Zügen genießen, mich leiden zu sehen. „Genau genommen ist es der Wagen einer Autovermietung, aber ja.“
„Das tut mir wahnsinnig leid“, murmelte ich. „Ich hatte es eilig, und zwar richtig eilig. Die Art von eilig wie damals …“
„Lass mich raten. Als du Tommys Versuch, dir das Kaugummi ins Haar zu kleben, rächen wolltest?“
„Versuch? Das war kein Versuch. Dank ihm bin ich wochenlang mit einer Mütze rumgerannt – im Hochsommer.“
Er lächelte, als erinnerte er sich nur zu gut daran, wie ich mit den Stoppelfransen auf dem Deckhaar ausgesehen hatte. Es war dieses seltene Lächeln von ihm, das er nur wenigen Menschen zeigte. Vor einer gefühlten Ewigkeit war ich eine von ihnen gewesen. Auch jetzt noch fragte ich mich, wie irgendein Mensch in Owen je etwas Schlechtes hatte sehen können. Owen Edwards. Raufbold der Highschool und vermeintlicher Bad Boy. Sohn eines stadtbekannten Säufers, der es mit seiner Erziehung und dem Gesetz nicht allzu genau nahm. Und nicht zu vergessen: mein damaliger Freund. Ich steckte in Schwierigkeiten, in verdammt großen Schwierigkeiten. Mein Herz stolperte.
„Du bist also zurück?“, fragte ich leise und ein bedrohlicher Ton schwang plötzlich in meiner Stimme mit. Offenbar hatte Owens überraschendes Auftauchen meine Erinnerung getrübt. Doch jetzt war sie wieder da.
Zögerlich öffnete ich die Fahrertür, auch wenn ich wusste, dass es womöglich keine gute Idee war, auf meinen wackeligen Beinen zu stehen. Der Schutz der Karosse hätte mich davor bewahren können, ihm wahlweise um den Hals zu fallen oder ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Beides war möglich. Immerhin hatte er sich sang- und klanglos aus meinem Leben davongestohlen und sich … elf Jahre nicht mehr blicken lassen. E-L-F Jahre!
„Sieht wohl so aus“, antwortete er. Owen zuckte mit den Schultern, ehe sein Blick von meinem Gesicht hinab und über meinen Körper glitt und sich seine Miene wieder verschloss. Und das machte es einem unmöglich, hinter seine Fassade zu blicken. Auch nach all den Jahren hatte sich das nicht geändert.
„Mehr hast du also nicht zu sagen?“, fragte ich erbost und stieß mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen seinen gestählten Brustmuskel. Überrascht zog er die Brauen hoch. Als wäre mein Finger eine geladene Glock, hob er seine Arme, um mich zu besänftigen.
„Kaylee …“
„Tu uns beiden einen Gefallen und halt die Klappe, Owen!“, erstickte ich seine höchstwahrscheinlich unterhaltsamen Erklärungen im Keim, die ganze elf Jahre zu spät kamen. „Wie aus dem Nichts tauchst du hier einfach wieder auf und ziehst mich wegen meines Fahrstils auf, als seien keine elf Jahre vergangen, in denen du dich nicht einmal gemeldet hast.“
„Ich wollte nicht …“
„Deinetwegen habe ich wochen-, ach was, monatelang die Hölle durchgemacht, bis irgendwann diese Nachricht durchsickerte, dass du ein verdammter Eishockeystar geworden bist und deine Leiche nicht irgendwo in einem Graben vor sich hin verwest.“
„Ich dachte doch nicht …“
„Oh, das überrascht mich nicht. Du hast nie viel gedacht, sondern lieber gehandelt und dich hinterher über die Konsequenzen gewundert.“ Wutschnaubend und mit in den Hüften gestemmten Händen starrte ich ihn an.
„Ich habe nicht erwartet, dass du dich dermaßen um mich sorgen würdest, Cookie.“
Der Klang des Kosenamens, den er mir als Junge mit viel zu stämmigen Beinen gegeben hatte, verursachte eine Gänsehaut und besänftigte mich gegen meinen Willen ein wenig. Seine Worte erweichten mein Herz, sodass es ihm bereitwillig alles vergeben wollte. Kein Wunder. Laut allen anderen in dieser Stadt war ich immer viel zu nachsichtig mit ihm gewesen. Das lag vermutlich daran, dass es nur wenige gab, die diese andere und nicht abweisende Seite von ihm zu sehen bekommen hatten. Ich hingegen erinnerte mich nur zu gut an den schmächtigen Jungen, der ständig mit blauen Flecken übersät gewesen war und nichts mehr mit dem muskelbepackten Mann zu tun zu haben schien, der nun vor mir stand.
„Nach all dem hattest du nicht verstanden, was du mir bedeutet hast?“, fragte ich ungläubig und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sprachlos sah er mich an, offenbar zu überwältigt von meinem Ausbruch.
„Weißt du was, Owen Edwards?“ Meine Stimme zitterte verräterisch und ich brauchte all die mir noch verbliebene Energie, um nicht laut loszuschluchzen. „Fahr doch zur Hölle, oder dorthin, wo du hergekommen bist. Hier braucht dich keiner.“
Mit diesen Worten wandte ich mich ab, setzte mich ins Auto, warf den Motor an und fuhr, ohne einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, rückwärts. Lautes Hupen und ein ohrenbetäubendes Reifenquietschen, gefolgt von einem geräuschvollen Fluch, verrieten mir, dass ich wieder nur haarscharf an einem Unfall vorbeigeschlittert war. Ich wollte im Erdboden versinken. Wo war nur ein Mauseloch, wenn man es dringend brauchte?