PROLOG
Der kalte Wind blies durch ihr Haar, umwehte ihre Wangen und senkte die Temperatur ihres ohnehin ausgekühlten Körpers weiter herunter. Mit jedem Atemzug bekam sie weniger Sauerstoff, als säße jemand auf ihrem Brustkorb und hindere sie am Atmen. Nichts dergleichen geschah jedoch – es waren ihre Verletzungen, die ihr die Luft raubten.
Es musste sie schlimm erwischt haben, denn die klebrige, warme Flüssigkeit, in der sie lag, breitete sich aus. Auch ohne die Menge Blut hätte sie längst gewusst, dass dies das Ende war. Ihr Herz versuchte mit der letzten Anstrengung mühselig, das verbliebene Blut durch ihre Adern zu pumpen. Es würde allerdings nirgendwo rechtzeitig ankommen. Sie spürte keinen Schmerz, nur unendliches Bedauern, nicht mehr in seine Augen blicken zu dürfen. Nur ein allerletztes Mal.
Eine tiefe Traurigkeit erfüllte sie, mit der sie nicht gerechnet hatte. Im vergangenen Jahr hatte sie daran gezweifelt, dieses Dasein fristen zu wollen. Jetzt wusste sie es. Sie hatte leben wollen. Sie hatte für eine Zukunft mit Rian gekämpft. Nur das hatte ihr die Kraft gegeben, weiterzumachen. Trotz allem oder gerade wegen all dem, was geschehen war. Sie dachte an ihren Vater, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte. Nun war es so weit. Er wartete auf sie und sie würde ihn endlich in die Arme schließen.
Sie holte ein letztes Mal rasselnd Luft und bäumte sich im Kampf gegen den Tod auf. Ihre blutgetränkte Hand mit dem wunderschönen Ring, den sie nur so kurz hatte tragen dürfen, sank kraftlos auf die Erde, und ihre Lider schlossen sich für immer.
Tiefblaue Augen öffneten sich.
1. Wenige Monate später …
„Love you until I’m with you …“
Die Menschen, die um ihn herumstanden und ihn anstarrten, waren ein ausgesprochen überraschendes Publikum. Es war der erste Tag, an dem tatsächlich Gage zusammengekommen war. Er würde womöglich genug Geld haben, um endlich wieder in einem Hostel zu schlafen und vielleicht sogar seinen Magen mit mehr als einer winzigen Chips-Tüte und einer Dose Limo zu füllen. Ein älterer Mann warf ein paar Pfund in den Gitarrenkoffer, der vor ihm stand. Eine jüngere Frau hatte gleich einige Scheine hineingeworfen. Nachdem er seine Session beendet hatte, gab es Beifall, und die Menschenansammlung um ihn herum löste sich auf. Er stellte die Gitarre ab und pustete sich in die frostigen Hände, um sie zu wärmen. Seine an den Fingerknöcheln abgeschnittenen Handschuhe, die Mütze und der Schal schützten ihn nur wenig vor den eisigen Temperaturen in London. Der Wind pfiff durch seine abgetragene Kleidung, und er sehnte sich nach einem heißen Tee. Ein Blick in den Koffer ließ ihn erleichtert aufatmen. Für heute wäre sogar ein Festmahl drin. Er hockte sich hin und wandte sich der Gitarre zu, die er in den Koffer hineinlegte. Noch während er das tat, hielt er abrupt inne.
Er konnte die Gefahr nicht sehen oder hören, doch sein Instinkt warnte ihn. Jedes Nackenhaar stellte sich auf, und seine Hand glitt in alter Angewohnheit an seine Hüfte, an der sich üblicherweise ein Schwert befunden hatte. Jetzt fasste er allerdings ins Leere. Das Gewicht eines Klappmessers wog schwer in seiner Jackentasche, und ein Lächeln schlich sich auf sein müdes Gesicht, das seine Augen nicht erreichte. Man hatte sich einst erzählt, dass er mit einem Buttermesser eine ganze Armee schachmatt setzen konnte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.
Geschmeidig wie ein Panther schulterte er Gitarrenkoffer und Reisesack und machte sich auf den Weg. Aus den Augenwinkeln nahm er eine in Schwarz gekleidete Gestalt wahr, die ihm in einigem Abstand folgte. Ohne sich auf seinem Weg ein einziges Mal umzudrehen, behielt er die Person genau im Auge: im Rückspiegel eines geparkten Autos, einer riesigen Sonnenbrille einer High Society Lady oder einem Schaufenster. Das war jahrelange Angewohnheit, so etwas verlernte man nicht in wenigen Wochen. Er bezweifelte, dass man das jemals vergaß.
Er wog seine Chancen ab. Sollte er in die nächste U-Bahn einsteigen und verschwinden, oder konnte er seinen Verfolger in eine dunkle Gasse locken und überwältigen? Um keinen Preis der Welt wollte er Aufmerksamkeit auf seine Person lenken. Deswegen setzte er sich in die U-Bahn.
Es hatte ihn eine Ewigkeit gekostet, sich vor seinen eigenen Leuten in Luft aufzulösen. Es war ein Risiko gewesen, nach London zurückzukehren. Er hatte sich lange gegen dieses innere Drängen gewehrt, aber die Anziehung zu dem Ort, an dem alles begonnen hatte, war übermächtig gewesen.
Zweimal stieg er um und schüttelte seine Verfolger überraschenderweise ab. Nun konnte er sich in das abgelegene Hostel zurückziehen und ausspannen. Würde es ihm diesmal gelingen? Sobald er nicht unter Menschen war, kamen all die Gedanken zu ihm durch, die er so dringend ausblenden musste. Er betrat eine stillgelegte Gasse und suchte den Eingang des Hostels, in dem er bereits vor ein paar Tagen übernachtet hatte. Eine Person trat ihm entgegen, die die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte, und er hielt inne. Er wandte sich um und wollte entkommen, doch der ursprüngliche Verfolger versperrte ihm den einzigen Fluchtweg. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er war nicht verfolgt, sondern getrieben worden. Resigniert ließ er das Gepäck zu Boden sinken und zückte sein Messer. Die Gestalten kamen näher, und er wartete darauf, dass sie angriffen. Die Eröffnung eines Kampfes blieb aus. Stattdessen trat sein Jäger auf ihn zu, und er glaubte plötzlich sehr genau zu wissen, wer dieser Typ war. Er schloss gequält die Augen und spürte von hinten eine Hand auf seiner Schulter. Diese Geste hätte er wahrscheinlich noch erkannt, wenn er bereits tot gewesen wäre.
„Es wird Zeit, Rian“, sagte eine altbekannte Stimme, der er den größten Teil seines Daseins sein Leben anvertraut hatte.
Nach all den Lügen fragte er sich, was er James Mac Calaghan überhaupt glauben konnte. Augenblicklich war Wut das vorrangigste Gefühl, das er empfand. Sein Gegenüber schlug die Kapuze zurück, und die Wut wurde sofort vom Anblick seines besten Freundes und Vertrauten gemildert. Kay stand vor ihm und sah ihn auf eine Weise an, die Rian nach all den Jahren des gegenseitigen Studierens nicht deuten konnte. Plötzlich war sein Herz in heller Aufregung, und er stellte offenbar allein mit dem Ausdruck auf seinem Gesicht die eine Frage, die er unfähig war auszusprechen. Waren sie gekommen, um ihm zu sagen, dass Megan sie schlussendlich getötet hatte?
„Soweit wir wissen, ist sie am Leben“, beantwortete Kay wie selbstverständlich als hätte er seine Gedanken gelesen.
Rians heftiges Herzschlagen beruhigte sich, zumindest ein wenig. „Soweit ihr wisst?“, echote er ungläubig. Der Ton in seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, was er in Wahrheit davon hielt.
„Es ist nicht so einfach, ihre Fährte aufzunehmen und gleichzeitig dich im Auge zu behalten.“ Kay zuckte scheinbar gleichgültig mit den Achseln, und Rians Wut kehrte lodernd zurück.
„Also habt ihr es aufgegeben? So leicht? Nach allem, was wir für ihre Sicherheit auf uns genommen haben, ist es egal, was mit ihr geschieht?“ Rian erwartete keine Antwort. Er strich sich überfordert übers Gesicht.
„Und du? Hast du es aufgegeben, sie zu finden?“ Kay verschränkte die Arme vor der Brust. Noch bevor der Satz ausgesprochen war, stürzte sich Rian auf ihn. Er schleuderte Kay mit aller Kraft gegen die nächste Mauer.
„Ich habe meine Gründe, wie du sehr genau weißt.“
„Ich weiß nichts davon, denn du bist ebenfalls in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwunden und hast alle im Stich gelassen.“ Augenblicklich hatte Kay den Spieß umgedreht. Höchstwahrscheinlich hatte er im Gegensatz zu ihm täglich trainiert. Rian fiel mit Wucht auf den Hintern und schlug sich den Kopf an einem der Mülleimer an. Der Schmerz war nichts im Vergleich dazu, was sein Innerstes aushalten musste.
„Du hast dein Volk, nein, warte, deine beiden Völker zurückgelassen, deine Freunde, deine Gefährten und alle, die dich schätzen und … lieben. Obwohl du wusstest, wie aussichtslos unser Kampf ohne dich, den Thronfolger der Elfen und Herrscher über des Grünen Zirkels, sein würde. Wie konntest du so etwas tun? Mein Freund, mein Blutsbruder, hätte so was nie getan. Er wäre dort an meiner Seite und würde mit mir kämpfen.“
Rian senkte den Blick, während James Kay ermahnte. „Denk an unseren Kodex, Kay.“
„Der gilt für mich nicht. Nicht bei ihm, bei meinem Bruder, dem einzigen Wesen, dem ich mein Leben anvertrauen würde. Denn das bist du, egal welch königliches Blut in deinen Adern fließt oder wie weit du davon läufst, dich betrinkst und vor deiner wahren Bestimmung flüchtest. Du wirst immer mein Gefährte sein, und ich werde, wenn es sein muss, bis zum Ende unseres Lebens dein Schatten sein.“ Damit ließ er von ihm ab und ging ein paar Schritte, um seinen Ärger zu vertreiben.
Rian stieß die angestaute Luft aus und vermied es, James anzusehen. „Wie lange verfolgt ihr mich schon?“
„Wir haben dich nie aus den Augen gelassen“, antwortete James ruhig. „Oder glaubst du, der Thronfolger zweier Völker marschiert unbewacht durch die Menschenwelt?“
Bei seinen Worten lachte Rian höhnisch. „Warum habt ihr mich dann nicht viel eher abgefangen?“
„Weil wir dachten, dass du Zeit brauchst, um zur Besinnung zu kommen“, knurrte Kay. „Stattdessen singst du Liebesschnulzen auf offener Straße und pennst in den heruntergekommensten Buden.“ Er schüttelte den Kopf, und Rians Bestürzung über Kays klar gezeigte Ablehnung erreichte sein Limit.
„Na spuck es schon aus, was für eine riesige Enttäuschung ich für euch bin!“
Mit drohenden Schritten gingen sie aufeinander zu und blieben Nase an Nase voreinander stehen.
„Du willst es hören, ja?“, rief Kay.
Gehetzt sah Rian von einem zum anderen. „Ich wurde gelinkt und zu etwas gemacht, was ich keinesfalls bin, was ich nie hätte sein sollen. Was hättest du denn getan?“
„Ich hätte meinen besten Freund angeschrien, warum er mein Mädchen nicht aufgehalten hat, als sie ihre Flucht geplant hat, und ihm vielleicht eine verpasst.“
„Das ging nur leider nicht, weil du schon aussahst wie Klitschkos Boxsack und gerade so mit dem Leben davon gekommen warst“, schrie Rian zurück. „Und alte Männer schlage ich aus Prinzip nicht“, fügte er an James gewandt hinzu, der ihn nur ausdruckslos ansah.
Kay schüttelte den Kopf und lief aufgeregt hin und her, wie es sonst nur James tat.
„Wir wollen doch nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns ziehen, oder Jungs?“, versuchte James, sie zu beruhigen.
„Meinetwegen bin ich ruhiger, aber ich werde ihm sagen, was er hören muss, ob König oder nicht. Du bist der größte Waschlappen, den das Sagenland je gesehen hat. Wie kannst du nur bei der ersten Gelegenheit, wo es schwierig wird, abhauen und alle im Stich lassen? Du, der immer davon gesprochen hat, dass er endgültig Frieden schaffen will und sogar bereit ist, dafür zu sterben. Jetzt hast du eine Chance! Eine reale und echte Möglichkeit, deinen Platz als Thronfolger einzunehmen.“
„Ich will kein verdammter König sein!“, rief Rian verzweifelt.
„Tja, schade, denn es ist nun mal dein Geburtsrecht, und endlich weißt du, wie Lily sich die ganze Zeit gefühlt hat. Obwohl Kian es nie gewusst hat, hat er von seinen Waisenkindern dich ausgesucht, um ihm alles beizubringen, was ein König wissen muss. Kian hat in dir einen Herrscher gesehen und hat an dich geglaubt, bevor es jemand anderes bemerkt hat. Willst du ihn, dem einzigen Mann, der einem Vater für dich am nächsten kam, derart tief enttäuschen? Er wollte nie, dass seine Tochter den Elfenthronfolger heiratet. Er hat dich zum Anführer des Zirkels gemacht, zu ihrem Beschützer, damit sie den Mann heiraten kann, den sie liebt. Und wo bist du? Du lässt Lily da draußen allein gegen die dunkle Fee antreten, in dem Wissen, dass sie jede Sekunde ihr Leben lassen könnte, nur um deines zu retten!“
„Sie rettet mich?“, wiederholte Rian perplex. „Und was ist mit den Wochen, in denen ich sie wie ein Besessener gesucht habe? Was glaubst du, was ich hier tue?“
„Sie ist nicht auf der Erde“, entgegnete Kay überzeugt.
„Woher willst du das wissen? Dies ist die Stadt, in der sie jahrelang gelebt hat. Ihre Mutter ist hier.“
Kay schüttelte den Kopf. „Sie hat diesen Ort gehasst und würde das Sagenland niemals verlassen. Das solltest du besser wissen als jeder andere.“
„Aber wo ist sie dann?“, wisperte Rian verzweifelt und strich durch sein Haar.
„Sie ist da draußen und kämpft für uns.“ Mit den Worten schlug Kay seine Kapuze hoch und verließ die Gasse im Eilschritt.
James trat in Rians Blickfeld und bewirkte so, dass er ihn ansehen musste. „Es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren, Rian. Ich weiß, du leidest, und ich habe dir eine Verantwortung aufgebürdet, um die du nie gebeten hast. Aber du wirst gebraucht. In einem muss ich Kay zustimmen …“
James sanfte Stimme ließ ihn einknicken. „Nur in einem? …“
„Sie ist irgendwo da draußen und braucht dich.“ James seufzte und hielt ihm eine Hand entgegen, die er geflissentlich ignorierte und von selbst auf die Beine kam.
„Es ist nie fair, Rian. Als wir Lily aus ihrem Leben gerissen haben, damit sie ihre Bestimmung erfüllt, den Elfenthronfolger zu heiraten, war das ungerecht. Es war unfair, dass sie ohne Vater aufgewachsen ist, oder dass Kian so früh sterben musste. Das Leben ist nicht gerecht. Es verteilt nur wenige Karten an uns und kaum Möglichkeiten, etwas zu schaffen. Aber du und Lily bringt Hoffnung für eine echte Chance auf Frieden im Sagenland. Es rettet nicht nur unsere Welt vor der vollkommenen Zerstörung, sondern auch die Erde. Hast du nicht bemerkt, wie die Jahreszeiten sich verschieben?“ James wärmte sich demonstrativ seine Hände an seinem Atem und sah in den Himmel hinauf. „Du solltest auf mich sauer sein, weil ich dich all die Jahre belogen habe. Du kannst deine Mutter verachten, da sie den Weg zweier alter Männer gewählt hat, um diese Welten zu retten. Aber sei nicht auf Kay wütend, weil er Lily hat gehen lassen. Wir haben sie an diesem Tag alle gesehen und nicht aufhalten können. Sie war wie eine Naturgewalt. Du hast es selbst oft erlebt, und an diesem Morgen war sie keine Prinzessin oder das tollpatschige, nette Mädchen. Sie war die Königin des Grünen Zirkels. Sie ist Kians Tochter und sie hat eine schwerwiegende Entscheidung getroffen, mit deren Konsequenzen sie nun leben muss.“
„Nicht nur sie muss damit leben“, erinnerte ihn Rian.
James seufzte und machte sich daran, ihn zu verlassen. Er drehte sich noch einmal zu ihm um. „Wenn ich eins von ihr gelernt habe, dann, dass sie die Dinge anders angeht, um alles zum Besseren zu wenden. Sie sattelt das Pferd vielleicht von hinten auf, aber sie reitet, und das will für unsere Lily schon etwas heißen, oder?!“ Er zwinkerte ihm zu und verschwand.
* * *
Mayfair gehörte zum nobleren Stadtteil von London, und Rian war bewusst, wie wenig er in seinem Aufzug hierher passte. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand die Polizei rief, die ihn dann fortbrachte. Er war öfter in den letzten Tagen hierhergekommen und hatte dieses Haus vor ihm ausgekundschaftet. Lange hatte er sich gefragt, was ihn hierher gezogen hatte. Nach dem Besuch von Kay und James verstand er es plötzlich. Hier lebte die einzige Person, die Lily so lange kannte wie Caitlin und Liam. Ein Teil in ihm hatte darauf gehofft, dass Lily womöglich hier Zuflucht suchen würde, der andere, wesentlich größere, wollte verstehen. Verstehen, was diese Mutter dazu gebracht hatte, ihre einzige Tochter aufzugeben. Die besondere Person, die sein Herz gebrochen hatte und darauf herumgetrampelt war. Er wusste natürlich durch den Beginn ihrer Sicherheitsvorkehrung für Lily, wo sie gelebt hatte. Allerdings war es das erste Mal, dass er Menschen hinauskommen sah: eine Frau und ein Mann mittleren Alters, der zur Glatze neigte, Brille trug und für menschliche Ansprüche gut gekleidet war. Er küsste die Frau flüchtig auf die Wange und setzte sich in ein schickes Auto, das sofort losfuhr. Die Frau schlug ihren pelzbesetzten Mantelkragen gegen den kalten Wind im Nacken hoch und wartete offenbar auf ein Taxi, oder eine Limousine, wie Rian verblüfft feststellte. Der Wagen hielt vor ihr, und der Fahrer stieg aus, um ihr die Tür zu öffnen. Rian musste sich in Sekundenbruchteilen entscheiden und rannte los. Der Chauffeur saß bereits wieder und blinkte, um sich in den Verkehr einzuordnen, da riss er die hintere Tür auf und sprang hinein. Die Frau kreischte, und der Fahrer trat auf die Bremse. Sie griff sich theatralisch an die Brust und rückte ihren Hut auf dem Kopf zurecht.
„Was fällt Ihnen ein, Sie Penner?“, brüllte sie, ohne zu zögern. Sie sah vollkommen anders aus als Lily und nicht nur das: Sie klang fremd. Sie sprach einen Hauch nasal und starrte ihn mit unverhohlener Abneigung an. Solch einen Blick hatte er niemals an Lily gesehen. Seine liebe, gutherzige Prinzessin, die sogar den verfluchten Seelen auf dem Meeresgrund vergab. Ein beinahe schon willkommener Schmerz in seiner Brustgegend machte sich pochend bemerkbar, wie immer, wenn er an sie dachte. Diese Frau konnte unmöglich ihre Mutter sein. Ausgeschlossen.
Er wollte sich bereits entschuldigen und aus dem Auto fliehen, als er einen Blick auf ihre Gesichtszüge warf und innehielt. Die Ähnlichkeit war nicht im ersten Moment zu erkennen. Kian hatte Lily definitiv seine Augen vererbt, aber ihre Mimik glich der ihrer Mutter. „Misses Harold, ich rufe umgehend die Polizei!“, rief der Fahrer nach hinten.
„Wenn Sie eine gute Mutter wären, wüssten Sie, wer ich bin, und würden sicher keinen Alarm schlagen.“ Rians Stimme war vollkommen ruhig, doch sein Herz hämmerte wild. Gegen Schatten zu kämpfen, machte ihn nicht so nervös. Mit diesen Worten gewann er Jane Harolds Aufmerksamkeit. Ihr schien klar zu werden, dass er bedeutend war. Das erkannte er an den zusammengekniffenen Augen und dem Stirnrunzeln.
„Was fällt Ihnen ein?“
„Aber da wir ja beide wissen, dass Sie niemals den Beste-Mutter-Award bekommen werden, gehe ich mal davon aus, dass Sie keine Ahnung haben, wer ich bin.“
„Sie sind wie ein Irrer in mein Auto gesprungen …“ Offensichtlich war sie bemüht, vom Thema abzulenken.
„Wollen Sie, dass ich vor Ihrem Chauffeur das Offizielle zur Sprache bringe, oder bitten Sie ihn auszusteigen?“
Sie brauchte keine Sekunde, um sich zu entscheiden, und beruhigte ihren Fahrer mit wenigen Worten. Er sah sie zwar skeptisch an, aber sie musste ihn nicht noch einmal bitten. Endlich waren sie allein und sie holte tief Luft. „Ist es so weit?“
Rian runzelte die Stirn. „Wovon sprechen Sie?“
„Ist sie … tot?“ Misses Harold sah aus dem Fenster. „Lily … sind Sie hier, um mir zu sagen, es ist geschehen?“
Zuerst wollte er ihr empört widersprechen, erstarrte allerdings und sah Lilys Mutter forschend an. Genau diese Frage hatte er Kay und James auch zuallererst gestellt. Konnte es sein, dass Jane Harold und er mehr gemeinsam hatten, als er für möglich gehalten hätte? Er zwang sich, tief durchzuatmen. „Interessiert es Sie denn überhaupt?“
Der Blick, den sie ihm nun zuwarf, war wild und gehetzt. „Wie können Sie es wagen? Sie ist meine Tochter!“
„Sie lebt, zumindest soweit wir wissen“, wiederholte er exakt Kays Antwort von vor wenigen Stunden. Rian sah nun auf seine Finger hinunter.
„Ist es nicht Ihre Aufgabe, sie zu beschützen?“
Rian lachte verbittert. „Keine Ahnung, wer eigentlich wen beschützt hat.“ Er seufzte und sah Jane an.
„Was wollen Sie dann hier? Warum bescheren Sie mir und meinem Chauffeur einen derartigen Schock, wenn Sie keine Nachricht für mich haben?“
„Warum haben Sie Lily so schlecht behandelt? Wieso haben Sie sie nicht besser beschützt? Aus welchem Grund haben Sie sie hierher gebracht, wo sie so unglücklich war? Sie hätten sie besser darauf vorbereiten können, was auf sie zukommt. Es macht kaum den Anschein, als sorgen Sie sich um ihre Tochter, wie es eine Mutter eigentlich tun würde. Warum verstecken Sie sich hier und kämpfen nicht an ihrer Seite?“
Misses Harold sah ihn ausdruckslos an. „Fertig? Das sind sehr viele Fragen! Ich weiß zwar nicht, wieso ich diese beantworten sollte, aber ich tue es wegen dem schlechten Bild, das Sie offenbar von mir haben. Sie sehen so jung aus, dass sie bestimmt keine Kinder haben, oder? Ich wurde früh Mutter und habe noch vor der Geburt meiner Tochter von ihrem Schicksal erfahren. Ich habe fast fünf Jahre daran geglaubt, dass das unmöglich wahr sein konnte. Ich habe gehofft, dass Kian es schaffen würde, diese Bedrohung zu eliminieren, die ich sehr lange insgeheim anzweifelte. Je öfter ich ins Sagenland kam, desto häufiger kamen wir in Gefahr. Bei unserem letzten Besuch musste Kian etwas Schlimmes tun, damit wir unerkannt blieben, und erst da begriff ich das tatsächliche Ausmaß unserer Situation. Mein Kind würde sterben. Meine Mutter erzählte mir in dieser Nacht jedes Detail. Sie berichtete mir von den Visionen, die sie von ihrem Tod gehabt hatte, viele Jahre, bevor Lily lebte, sogar lange vor meiner Geburt.“ Jane Harold holte tief Luft, verzog jedoch keine Miene. Dann sah sie Rian offen in das Gesicht. „Ich war eine Mutter, die nicht nur einfach alleinerziehend war, was nebenbei bemerkt schon sehr schwer ist. Ich war eine Mutter, die damit rechnete, dass ihr Kind stirbt. Ich wusste nicht wann und wie, nur dass es geschehen würde. Eines Tages konnte dieses wundervolle kleine Mädchen nicht mehr bei mir sein. Jedes Mal wenn ich sie umzog, sobald ich sie badete oder mit ihr Schwimmen ging, erinnerte mich ihr Feenmal an das Unausweichliche. Sie können es herzlos oder dumm nennen, wenn Sie wollen. Aber ich liebte sie so sehr, dass mir bewusst war, ich würde es nicht verkraften, sie eines Tages zu verlieren.“
Das war etwas, dass Rian verstand. Plötzlich ergab alles einen Sinn. „Sie haben sich selbst beschützt“, bemerkte er tonlos. Lilys Mutter nickte leicht. „Das verstehe ich sehr gut. Und doch haben Sie einen schrecklichen Fehler gemacht! Sie haben nicht nur versäumt, für ihr kleines Mädchen zu kämpfen, sondern auch noch jeden Moment verpasst, den Sie mit ihr gemeinsam hätten haben können. Sie haben Sie aufgegeben und dafür gesorgt, dass sie Sie hasst! Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Lily jede Schlacht, jede Träne wert ist. Sie hat mich vom ersten Augenblick umgehauen, und mit jedem Tag an ihrer Seite hat sie mich mehr davon überzeugt, wie eine wahre Königin sein muss. Sie ist mutig und so tapfer, wie keine andere Fee vor ihr. Sie ist selbstlos, demütig und hat ein großes Herz. Sie gibt nichts und niemanden jemals auf. Sie hat es verdient, dass man für sie kämpft, dass man sie nicht aufgibt.“
Jane Harold sah ihn aus traurigen Augen an. „Sie müssen sie sehr lieben. Warum sind Sie dann überhaupt hier?“
„Das frage ich mich auch …“, murmelte Rian, schwang die Autotür schwungvoll auf und ließ sie zurück.
* * *
Er zögerte keine Sekunde, bevor er die Schwelle übertrat und der Gelehrten durch die Halle von Avalon folgte. Stolz erhobenen Hauptes schritt er in seiner schmuddeligen und abgetragenen Kleidung an den gaffenden Wesen vorbei.
Die Oberin sprang überrascht von ihrem Stuhl und trat auf ihn zu. Sie betrachtete ihn mit Genugtuung und einem Hauch Ablehnung, die er durchaus verstehen konnte. Bislang waren sie eher selten einer Meinung gewesen.
„Rian Brady, König des Grünen Zirkels, ich verneige mich vor Euch und bin unendlich froh über Eure Rückkehr.“ Sie verbeugte sich, und Rian tat es ihr nach, ganz ähnlich, wie Lily es vor einer gefühlten Ewigkeit getan hatte. Dann wandte er sich um und ging auf Kay und James zu, die ihn ausdruckslos anstarrten.
„Bringt mich nach Hause“, befahl er entschlossen, und James nickte nur lächelnd.
„Hast ja ganz schön lange gebraucht …“, meckerte Kay.
Rian ließ sich ungerührt neben ihn auf die Bank gleiten. „So wie ich das sehe, bin ich gerade rechtzeitig gekommen. Du wolltest das doch nicht wirklich essen, oder?“ Er zeigte mit zweifelndem Blick auf Kays Teller. Sein Freund schnaubte.
„Ist der König zurückgekehrt?“, fragte James, und Rians Gesichtsausdruck wurde ernst.
„Ich werde sein, was immer ich sein muss, um Lily zu finden. Wenn ich König sein muss, um Megan in den Arsch zu treten, dann werde ich das tun“, gab er zähneknirschend zu. „Ist das genug?“
James nickte, und Kay schlug Rian auf den Rücken. „Na, geht doch! Ich wusste, dass meine Ansprache dich umstimmt.“
„Eigentlich warst das nicht du.“
„Wer sonst?“
„Lilys Mum.“ James verschluckte sich an dem trockenen Brot, und Kay fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Du hast mit Jane gesprochen?“, fragte die Oberin hinter Rian.
„Das ist wohl etwas, das wir in privaten Räumen besprechen sollten“, schlug James vor.
Sie ließen den ungenießbaren Eintopf unbeachtet stehen und folgten Gillies. Kay und Rian liefen Schulter an Schulter hinter den Älteren her. Bevor sie Gillies und James in den Raum folgten, hielt Rian seinen Freund zurück.
„Ich wollte dir noch etwas sagen, Kay … Ich weiß, du bist nicht daran schuld, dass Lily gegangen ist. Die Wahrheit ist, dass ich mir selbst die Schuld gebe, aber es war so viel leichter, auf dich wütend zu sein, als mich meiner eigenen Verantwortung zu stellen.“
Kay senkte den Blick. „Was auch immer Lily dazu bewogen hat, uns zu verlassen, sie muss einen wichtigen Grund dafür haben.“
Rian lächelte traurig. „Ich hoffe nur, dieser Grund hat kein Zahnpastalächeln und dunkle Haare.“
„Sie liebt dich, Rian - ich weiß es.“
„Du bist sowieso der Klügere von uns beiden - ich sollte dir glauben.“
Kay grinste verschmitzt. „Abgesehen davon: Mit dir schaffe ich alles, sogar eine dunkle Fee mit ihren bösartigen Gefolgsleuten abzuschlachten.“
Wie gewohnt stützte Kay seine rechte Hand auf Rians Schulter, und Rian ahmte die Bewegung nach. Sie verharrten in dieser Position, ehe Kay durch die Tür ging, und Rian einen letzten Blick zum wolkenverhangenen Himmel warf und einen Vogel entdeckte. Er sah, wie er gegen den starken Wind ankämpfte, und dachte an Lily, die in diesem Augenblick höchstwahrscheinlich ebenfalls gegen einen Sturm kämpfte.