Prolog
Es war dunkel und so finster, wie es in einer Nacht ohne Laternenlicht nur sein konnte. Sie blickte einer Gestalt entgegen, die sie kaum erkennen konnte. Einer Person, die sie ängstigen sollte. In Wahrheit zog es sie direkt zu ihr hin. Es drängte sie geradezu, ihr ungeachtet entgegen zu laufen, um … ja, um was zu tun?
Die Gestalt kam nun langsam auf sie zu. Sie kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. An den breiten Schultern war auszumachen, dass es sich um einen Mann handelte. Er bewegte sich elegant, fast wie ein Panther, der seine Beute ins Auge gefasst hatte. Oder so grazil, als hätte er das gesamte Leben auf einem Drahtseil verbracht. Die Kapuze versteckte das Gesicht, welches sie so gern betrachten wollte. Sie konnte keine Haar- oder Augenfarbe erkennen, nichts, was es ihr möglich machen würde, ihn besser beschreiben zu können.
Sie spürte nur diese starke Anziehung, ganz so, als sei es lebenswichtig für sie, zu ihm zu gelangen.
1. Irgendwo ankommen
Tiefblaue Augen öffneten sich abrupt.
Ihr Kopf lehnte schwer gegen das beschlagene Fenster und wurde ordentlich durchgeschüttelt. Der Regen trommelte unentwegt auf das Dach des Zuges, und das ständige Ruckeln ließ nicht zu, dass sie in einen tieferen Schlaf fiel. Wenn sie den Tropfen weiterhin lauschte, dann bewahrte sie das auch vor einer erneuten verwirrenden Begegnung mit ihm. Sie schloss die Augen, um sich einen Moment der Ruhe zu gönnen und die Menschen um sie herum auszublenden.
Für Ende Dezember war es ungewöhnlich warm. Das bedeutete, dass sie in keine weiße Schneelandschaft treten würde, sobald sie aus dem Zug stieg, sondern bloß in Pfützen. Draußen war es feucht und matschig. Ein Wetter, bei dem sich Lily wirklich nicht wohlfühlte. Das mühsam geglättete Haar kräuselte sich dann augenblicklich in alle Richtungen – und unwillkürlich dachte sie an Hermine aus Harry Potter und den Hogwarts Express. Wie gern hätte sie einer solch magischen Zukunft entgegengesehen, mit all den Geheimnissen und Menschen, die einen faszinierten. Eine ihrer besten Fähigkeiten war es, sich in eines ihrer geliebten Bücher hineinzuträumen. Manchmal war sie eine stolze Elizabeth Bennet, die Mr. Darcy mit allerhand Vorurteilen betrachtete und sich am Ende doch Hals über Kopf in ihn verliebte. Ein anderes Mal kam sie sich wie Isolde vor, die ihre Liebe für Tristan nicht zu verbergen vermochte. Natürlich hatte sie auch zeitgenössische Literatur gelesen. Sie bewunderte die große und außergewöhnliche Liebe von Bella und Edward oder kämpfte an Harrys Seite gegen Voldemort. Wenn es etwas gab, das sie einst tun wollte, dann war es, ebensolche Bücher zu schreiben. Sie wünschte sich, Helden auferstehen zu lassen, die bereit waren, alles für die einzig wahre Liebe zu opfern. Damit würde sie hoffentlich anderen Menschen Mut machen, so wie ihre Buchhelden das bei ihr geschafft hatten. Auch wenn ihre nächste Station nicht Hogwarts hieß, so war doch jedes Ziel besser als das, welches sie hinter sich ließ.
Sie seufzte leise, als sie an die Welt dachte, die sie gerade verlassen hatte. Eine Welt, in der ihre Mutter die erste Geige gespielt hatte, gefolgt von der London High Society und unzähligen Benimmregeln. Danach kamen allerhand Partys, mit Kaviar und Champagner und nicht zu vergessen: gesellschaftliche Verpflichtungen. Die war ihr Problem gewesen. Nein, vermutlich stimmte das nicht. Eigentlich war sie das größte Problem gewesen. Ihr ganzes Leben hatte sie nie den Erwartungen ihrer Mutter entsprochen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals irgendwelchen Vorstellungen gerecht geworden zu sein. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, weil er ihre Mutter und sie kurz nach ihrer Geburt verlassen hatte. Wer verließ schon ein kleines Baby?
Wenn sie an die Zeit mit ihrer Mutter zurückdachte, die nicht nur aus Anstand und Benimmregeln bestanden hatte, wurde sie ganz wehmütig. Damals hatten sie noch in Cornwall in der Nähe von Onkel Liam und Tante Caitlin gelebt. Dies waren die glücklichsten Jahre in ihrem jungen Leben gewesen.
Ihre Mutter hatte jedoch unbedingt auf die Jagd nach einem ausgesprochen wohlhabenden Ehemann gehen müssen. Der sie dann auch noch nach London verschleppen und all ihre Träume hatte erfüllen müssen.
Harold war gewiss kein schlechter Typ. Er hatte für Jane die Türen zu etlichen vornehmen Clubs, Partys und Gesellschaften geöffnet. Als Gegenleistung liebte Jane ihn und machte ihn zur einzigen Priorität. Dieses Leben mochte Jane genügen, für Lily wurde es jedoch zur Tortur. Daran konnte auch die Geburt ihres Halbbruders Harry vor über acht Jahren, den sie trotz allem wirklich sehr lieb hatte, nichts ändern. Harry wurde allerdings ebenso nach den Vorstellungen seiner Eltern erzogen, und es wurde jetzt schon hinter vorgehaltener Hand von einer geplanten Verbindung zu Mr. Clearwaters Tochter Jenny getuschelt. Das stimmte Lily traurig, doch für Harry war das normal und in Ordnung. Er gierte danach, einst ein riesiges Unternehmen zu leiten. Vor allem freute er sich darauf, viel Geld auszugeben und sich jeden Luxus leisten zu können. Übelkeit stieg in Lily auf, und sie konnte nicht sagen, ob es an der Zugfahrt oder dieser Vorstellung lag.
Obwohl ihre Eltern diese Verbindung guthießen, Lily widerte es an.
Jedes Mal, wenn Lily ihre Meinung zu diesem Thema kundtat, verzog ihre Mutter geringschätzig den Mund und rümpfte die Nase. Ein Gesichtsausdruck, den Lily in der Vergangenheit häufig zu sehen bekommen hatte. Dieses Mädchen sollte ihre Tochter sein? Die seltsame, rebellische junge Frau, die die Last der gesamten Welt auf ihren Schultern zu tragen schien, sollte in ihre akkurate Welt passen?
Auch für sie hatte es schon einen Zukunftsplan gegeben. Harold hatte in ihr immer viel Potenzial gesehen, bereits als sie noch klein gewesen war. Die hellbraunen dicken Haare, die Porzellanhaut und die tiefblauen Augen mussten auf jeden Mann anziehend wirken. Einige hätten sie zur Frau haben wollen, und Lilys Zukunft wäre gesichert gewesen. Manchmal fragte sich Lily, ob die Londoner High Society noch im Mittelalter lebte. Die Vorstellung behielt Harold hartnäckig bei und sah mit Entzücken dabei zu, wie Lily weiblichere Rundungen bekam und erwachsen wurde. Allerdings nur so lange, bis sie sich das Haar schwarz färbte, die Augen dunkel umrandete und etliche Löcher in ihre Ohren und Nase bohrte. Die Kleidung wählte sie mit Bedacht. Sie legte sich durchlöcherte Hosen und dunkle T-Shirts in Übergröße zu, um ihren wohlgeformten Körper vor den möglichen Heiratsanwärtern zu verbergen. Nach all den Jahren hatte sie beinahe vergessen, ob sie dieses Outfit selbst mochte, oder nur ausgesucht hatte, um nicht in das perfekte Bild der Harolds (so nannte Harold sie alle spaßeshalber) zu passen. Die Nasenringe waren mittlerweile verschwunden, doch von der restlichen Maskerade hatte Lily sich bisher noch nicht trennen können. Es war Lilys Art, sich nicht an die Wünsche und Vorstellung ihres Umfelds anzupassen. Manchmal fragte sie sich, ob sie tatsächlich etwas dagegen hatte oder ihre Rebellion bloß Gewohnheit war.
Sie spürte den Blick des alten Mannes auf sich ruhen, der ihr gegenübersaß. Er musterte sie eingehend, ja beinahe neugierig. Ob er ihre Erscheinung verabscheute oder sie insgeheim bewunderte, vermochte Lily nicht zu sagen. Sie trug die bequemen Stiefel, die bis zu den Knien zugeschnürt waren. Da sie den ganzen Tag auf den Beinen sein würde, hatte sie angenehmes Schuhwerk für eine gute Idee gehalten. Außerdem vervollständigten eine Jeans, eine warme Jacke und eine graue Strickmütze, die ihr unordentliches Haar verborgen hielt, ihr Outfit. Die alte Baskenmütze thronte auf dem Kopf des Mannes. Seine Kleidung wirkte zerschlissen und abgenutzt. Lily betrachtete seine Gestalt näher und verweilte bei den Händen, die eine durchweichte Zeitung festhielten. Sie waren gepflegt und makellos. Es gab keine Trauerränder, die man bei dieser Aufmachung erwartet hätte. Sie spürte, wie er sie unverhohlen anstarrte, und Lily wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Gütige dunkle Augen und ein freundliches Lächeln sahen ihr entgegen. Sie konnte nicht anders und lächelte zurück.
„Möchten Sie auch mal in die Zeitung schauen?“, fragte er, und Lily schüttelte den Kopf.
„Nein danke, ich fürchte, sie würde keine weitere Lesung überstehen.“
Der Mann sah irritiert auf die zerknüllten Papierseiten Gegenstand in seinen Händen, als bemerke er erst jetzt, dass damit etwas nicht stimmte. Er wirkte jedoch keineswegs unzufrieden. „Auf dem Weg nach Hause?“
Lilys verwunderter Blick schweifte in die Ferne und fand prompt eine Antwort, die wahrer war als viele zuvor. „Nach Hause … ja.“
Der Fremde lächelte und überließ Lily ihren Gedanken. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die restliche Reise.“ Lily lächelte bloß und sah dann wieder fort.
Der Zug würde sie endlich in eine andere und hoffentlich bessere Welt führen. Dorthin, wo sie zuletzt wirklich glücklich gewesen war - nach Cornwall. Es hatte nicht viel gebraucht, damit sie ihren Willen bekam, um weit weg von ihrer Mutter leben zu können. Sie wurde leider erst in wenigen Monaten volljährig, und so hätten ihr noch etliche Teepartys bevorgestanden. Glücklicherweise war ihr die rettende Idee gekommen. Sie war mit ein paar Bekannten in die Cafeteria ihrer alten Schule eingebrochen und hatte dort alles verwüstet. Diese Menschen als Freunde zu bezeichnen, wäre albern gewesen, denn sie hatte sich ihnen bloß angeschlossen, um für genügend Ärger zu sorgen. Das hatte Jane schließlich den Rest gegeben. Sie hatte den Gedanken aufgegeben, dass aus der einzigen Tochter, dem hässlichen Entlein, einmal der schöne Schwan werden würde, den sie erwartet hatte. Lily erinnerte sich genau an die zusammengekniffenen Lippen, als Jane ihr den Telefonhörer gereicht und befohlen hatte, Onkel Liam anzurufen.
Liam war in all der Zeit Lilys einziger Lichtblick gewesen. Bei ihm hatte sie jedes Jahr zwei Wochen ihrer Sommerferien verbringen dürfen. Sie liebte dort einfach alles. Es war ruhig, es gab nicht so viele Menschen und am Allerwichtigsten: Es war überall grün. Es gab nichts Schöneres, als sich mit einem Buch ins Gras sinken zu lassen und bloß der Natur zu lauschen. In den zwei Wochen, die sie in Cornwall zu Besuch gewesen war, kehrte Frieden in ihre Seele. Sie hatte sich zu Hause gefühlt, als sei sie endlich irgendwo angekommen. Außerdem hieß man sie dort willkommen, und sie war kein hässlicher Klotz am Bein, der bei der Gesellschaft gern vertuscht wurde. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter sie nicht früher hatte gehen lassen wollen. Es war unübersehbar gewesen, dass Jane mit Lilys Verhalten alles andere als glücklich gewesen war. Dennoch hatte sie darauf bestanden, dass sie in London lebte.
Jetzt, wo es endlich so weit war, dass Lily nach Hause fuhr, fühlte sie sich seltsam. Weiterhin rastlos, als gehörte sie nirgendwo wirklich hin. Sie sollte eigentlich zuversichtlich und freudestrahlend im Zug sitzen, doch nichts davon traf zu. Irgendwann in den vergangenen Jahren hatte sie sich selbst verloren. Nun fürchtete sie sich, herauszufinden, was von ihr übrig geblieben war.
Aufgrund des lauten Schepperns hinter ihr, zuckte sie zusammen, und sie sah sich instinktiv um. Eine junge Frau mit halblangen, braunen Haaren hatte ihre Tasche fallen lassen. Der Schaffner beeilte sich, ihr zur Hand zu gehen und alles zurück in den beutelähnlichen Behälter zu stopfen. Die Fremde schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Er grinste ihr dümmlich hinterher, als sie wieder Platz nahm.
Lily konnte den Gesichtsausdruck des Kerls durchaus verstehen, denn die Frau war sehr hübsch. Sie war zwar keine klassische Schönheit, dafür war sie zu klein und zierlich, doch ihre Gesichtszüge waren fein und zogen viele Blicke auf sich. Alles an ihr wirkte natürlich schön. Es war wohl eher die Ausstrahlung, die den Mann und jeden anderen Fahrgast im Zug in ihren Bann zog. Einen Moment begegnete sie ihren Augen. Hastig sah Lily fort, da sie sich beim Starren ertappt fühlte, meinte aber, dass die Frau zu ihr herüber lächelte. Hatte sie es sich nur eingebildet, oder hatte sie tatsächlich ein Tattoo um das linke Auge der anderen gesehen? Beim erneuten Hinsehen, war nichts mehr davon zu erkennen. Irritiert entschloss sie sich, diesen Vorfall zu der Reihe von seltsamen Vorkommnissen zu schieben, die typisch für sie waren. Für die letzten Stunden Zugfahrt bis Plymouth schloss sie die Augen und wurde von den gleichmäßigen Geräuschen und Bewegungen in einen leichten Schlaf gewiegt.
Das abrupte Bremsen riss Lily aus ihrem Traum, und sie schreckte hoch. Da war er wieder gewesen … dieser Fremde. Er tauchte seit Monaten in ihren Träumen auf. Obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, kam er ihr vertraut vor. Wobei sie keineswegs sicher sein konnte, dass sie ihn nicht kannte, denn sie konnte weder die Haarfarbe noch die Augenfarbe richtig erkennen. Dennoch übte er eine Anziehungskraft auf sie aus, die sie kaum in Worte zu fassen vermochte. Er sah sie stets nur an, bewegte sich dann langsam auf sie zu, und immer, wenn sie auf ihn zulaufen wollte, war er bereits verschwunden. Sie hatte schon öfter daran gedacht, zur Traumdeutung zu gehen, aber eigentlich glaubte sie nicht an so einen Schabernack.
Beinahe vergaß sie, dass es Zeit war, auszusteigen. Sie packte ihren Rollkoffer und eilte auf die geöffneten Türen zu. Gerade eben noch quetschte sie sich hindurch, ehe sie sich automatisch schlossen. Lily sah sich kurz um und beobachtete die Fremde, wie sie die Treppe hinuntersprang. Dafür kamen zwei ihr nur zu vertraute Menschen auf sie zu. Die Erleichterung, die sie bereits herbeigesehnt hatte, überkam sie endlich, und sie stürzte freudig auf ihren Onkel und ihre Tante zu.
„Lily“, rief Caitlin freudestrahlend und fiel ihr buchstäblich um den Hals. „Wie geht es dir?“
Lily nickte und stimmte in ihr Lachen ein. Caitlin drückte sie an sich und machte nur zögerlich für ihren Mann Platz. Liam zog Lily in die Arme und hielt sie dort einen Augenblick länger fest, als wäre er ebenso erleichtert wie sie. Ein beruhigendes Gefühl. Ihre größte Sorge, den beiden zur Last zu fallen, hatte sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als sie um einen Schlafplatz für die letzten Monate bis zu ihrer Volljährigkeit gebeten hatte. Liam und Caitlin waren ziemlich aus dem Häuschen gewesen und hatten sofort begonnen, mit ihr Pläne zu schmieden.
Liam hielt Lily eine Armlänge von sich fort und betrachtete sie eingehend. „Wie ich sehe, ist viel Zeit vergangen seit deinem letzten Besuch. Du bist beinahe erwachsen.“
Liam deutete auf ihre Nase.
„Und den bist du auch endlich losgeworden, was? Ich dachte schon, diese Phase würde nie vorübergehen.“ Er grinste breit, und Lily wusste, dass er es nicht so meinte. Das ein oder andere Tattoo trug er ebenfalls auf der Haut, wie sie nur zu genau wusste.
„Das kann ich allerdings nicht erwidern. Ihr seht noch so jung aus wie vor ein paar Jahren.“
Onkel Liam sah so frisch aus, als würde er zur Uni gehen und nicht schon seit einer ganzen Weile ein allseits bekanntes Pub führen. Seine blonden Locken kräuselten sich dank des feuchten Wetters genauso wie Lilys. Wäre er nicht ihr Onkel gewesen, hätte sie ihn sicher als gut aussehend empfunden.
Ihre Tante Caitlin war jedoch weit davon entfernt, bloß attraktiv zu sein. Sie war eine wahre Schönheit. Das klassische Abbild einer Irin. Sie hatte rote, dicke Haare, Sommersprossen auf der Nase und tiefgrüne Augen. Das Funkeln ihrer Augen zeugte von so viel Lebensfreude, dass sich Lily neben ihr wie eine graue Maus vorkam. Caitlin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das macht nur die viele frische Luft!“
Lily hob die Augenbrauen. „Dann wäre Jane besser hier geblieben und hätte sich das viele Geld für die Chirurgen sparen können.“
„Verratet es ihr bloß nicht, sonst haben wir sie bald auch noch am Hals“, entfuhr es Liam, der kurz darauf losprustete, es allerdings als Hüsteln tarnte, nachdem er Caitlins strengen Blick aufgefangen hatte.
„Lasst uns zum Auto gehen. Vielleicht erwischen wir einen trockenen Moment“, schlug Caitlin vor, drückte ihrem Mann das Gepäck in die Hand und hakte sich bei ihr unter. Liam schnaubte, trottete ihnen aber folgsam hinterher.
„Erzähl uns erst einmal von den letzten Tagen in London. Wie waren deine Weihnachtstage mit den‚ Harolds‘?“, fragte Caitlin.
„Wie immer“, schwindelte Lily. Wäre es wie immer gewesen, hätten die vergangenen drei Tage beinhaltet, dass sie von einem Event zum nächsten geschleppt worden wäre. Nach ihrer Missetat hatte man auf ihre Anwesenheit verzichtet und sie allein in ihrem Zimmer gelassen. Das wollte sie ihrer Tante jedoch nicht gleich auf die Nase binden.
Diese sah sie höchstalarmiert an. „Was haben sie getan?“
Lily runzelte die Stirn. Allerdings war sie eine schlechte Lügnerin, das war sie schon immer gewesen. Den beiden Menschen um sich herum konnte sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund nie etwas vormachen.
„Ach, nichts weiter! Ich hatte endlich mal ein Weihnachtsfest, das ich ganz für mich allein gestalten durfte.“
Liam und Caitlin tauschten wieder einen dieser Blicke, die in ihr das Gefühl hervorriefen, sie würde alles beschönigen. Lily wollte nicht, dass sie sich für etwas schuldig fühlten, für das sie nichts konnten.
„Du weißt, du hättest viel eher zu uns kommen können …“
Genau das, dachte sie und lächelte dankbar zu ihrem Onkel auf. „Ich weiß! Aber das hätte meine Mutter nie zugelassen. Ich fürchte, das gehörte zu meiner Strafe für … na ja, ihr wisst schon … Ehrlich gesagt, hatte ich so wenigstens Zeit, mich in Ruhe von meinem Leben dort zu verabschieden. Ohne die Harolds, wenn ihr versteht?“
„Wie lange hat das gedauert?“, fragte Liam mit einem verkniffenen Grinsen im Gesicht, welches Lily erwiderte.
„Höchstens fünf Minuten!“
Sie lachten ausgelassen, was die Stimmung wieder auflockerte und löste.
Endlich kamen sie bei Liams roten Geländewagen an, packten alles ein und fuhren los. Lilys Blick fiel auf die Bushaltestelle, an der ein schwarzer Pick-up parkte. Plötzlich schaute sie der sonderbaren Frau aus dem Zug direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lily, die Frau zu kennen, meinte sie sogar beim Namen nennen zu können. Ein Bild von einer Wiese mit vielen bunten Blumen tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Es war wie eine schöne Erinnerung aus einem anderen Leben, als wüsste sie genau, wer dort stand, und ein Gefühl tiefer Erleichterung überfiel sie. Ganz so, als hätte sie etwas Wichtiges, dass sie einst verloren geglaubt hatte, wiedergefunden.
Beinahe hätte Lily aus einem Impuls heraus die Hand zum Gruß erhoben, was sie, Gott sei Dank, gerade noch unterdrücken konnte. Denn wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, seicht und blitzschnell, war der Augenblick vorüber, und sie wäre sich schrecklich albern vorgekommen. Ein seltsames Gefühl blieb allerdings in ihr zurück, weil Liam sie im Rückspiegel eindringlich musterte. Auf der Fahrt zum Haus von Onkel und Tante versuchte Lily, alle Eindrücke in sich aufzusaugen. Wie hatten ihr die grünen Felder, die Hügel, die Bäume und die wilden Blumen gefehlt! Caitlin und Liam sprachen währenddessen über das Abendessen und die Pläne für den Jahreswechsel. Sie war so vertieft in die Umwelt, dass sie davon kaum etwas mitbekam. Sie bogen in die Kensington Road und hielten vor einem großen Holzhaus. Ihr entwich beim Anblick des neuen Zuhauses ein Seufzer. Es stand nahe am Wald, umringt von unzähligen Bäumen und Wiesen. Vielleicht war es ungewöhnlich für eine Frau ihres Alters, dass sie sich freute, in einem Kaff festzusitzen und keine festen Straßen unter den Füßen zu spüren. Doch nach Jahren im ‚Nebel‘ genoss Lily es, endlich mal ein paar Dinge klar betrachten zu können. In London war ihr alles meist grau, verschwommen und wild vorgekommen. Sie hatte sich getrieben gefühlt, als sei sie ständig auf der Suche gewesen nach der Nadel im Heuhaufen.
Es regnete in Bindfäden, und sie wappneten sich beim Aussteigen mit den Kapuzen davor, nicht nass zu werden. Liam trug ihren Koffer ins Haus und stellte das Gepäck im Flur vor der Tür zum Wohnzimmer ab. Lily zog die schlammbespritzten Schuhe aus, bevor sie weiter in den Wohnbereich hineinging und sich umschaute. Alles war noch genauso wie vor einem halben Jahr. Die Wände waren in einem sanften Gelb gestrichen und im gesamten Raum waren wunderschöne, große Pflanzen verteilt worden. Die Inneneinrichtung war hochwertig und modern. Durch das Fenster hatte man einen ausgezeichneten Blick auf den dahinterliegenden Wald. Vielleicht hätten die dunklen Bäume auf manche unheimlich gewirkt, doch Lily zogen sie bloß an wie das Licht die Motten. Ganz so, als wollten sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. Ein Geheimnis, das sie betraf. Verträumt blickte sie hinaus. Wäre es trocken gewesen, wäre sie noch vor dem Auspacken hinausgelaufen, dessen war sie sich sicher.
Liam und Caitlin murmelten etwas in der Küche, die direkt ans Wohnzimmer grenzte. Lily beobachtete sie einen Augenblick, entschied aber dann, dass es sie nichts anging. Sie brauchte nicht lange zu warten, da kam ihr Onkel bereits zu ihr zurück. Er hatte seine Jacke anbehalten, und die hellblonden Haare standen in nassen, wilden Locken vom Kopf ab. Plötzlich wirkte er sehr jung, und Lily fragte sich unwillkürlich, wie er immer noch so aussehen konnte, als sei er Ende Zwanzig. Das war er schließlich schon gewesen, als sie damals von hier fortgegangen waren. Liams Haar war voll, ohne ein einzelnes graues Haar und zu einer dieser mit Gel geformten modischen Frisuren gestylt, die ihm zusätzlich ein jugendliches Erscheinungsbild verlieh. Sein ebenmäßiges Gesicht zeigte keine Spur eines Fältchens, was für einen Mann von Mitte Vierzig ungewöhnlich war. Ob das tatsächlich Auswirkungen der frischen Luft waren? Lily bezweifelte das stark. Es hatte ohnehin wie eine einstudierte Lüge geklungen.
„Dein Zimmer steht nach wie vor für dich bereit, Lilien.“ Er war der Einzige neben ihrer Mutter, der sie oft bei ihrem vollen Namen nannte. Sie wusste, das tat er im Gegensatz zu Jane nicht der Show wegen. Lilien hörte sich nach etwas Besonderem an, während Lily nach der Ansicht ihrer Mutter einfach nur gewöhnlich klang. Und Jane hatte allem Gewöhnlichen entsagt.
„Wir dachten, du packst in Ruhe aus und kommst mit Caitlin in zwei Stunden ins Mollys zum Essen? Ich muss jetzt schon wieder los. Ist das in Ordnung für dich?“ Liam gehörte das Mollys, ein Pub, etwa zwei Straßen entfernt. Es hatte sich einst im Besitz seines Vaters befunden, Lilys Großvater, den sie leider nie kennengelernt hatte. Genauso wenig wie den eigenen Vater. Der Begriff ging auf den Namen seiner ersten großen Liebe zurück. Es mochte auf viele befremdlich wirken, dass ihr Onkel der Vaterfigur am nächsten kam.
Lily wurde es warm ums Herz, als ihr klar wurde, dass er sich extra Zeit genommen hatte, um sie vom Bahnhof abzuholen. Liam wollte gerade gehen, als sie ihn zurückrief. „Liam? Ich wollte noch mal danke sagen, dass ich bei euch bleiben darf.“
Er lachte leise, dann wurde er ernst. „Du hast schon immer hierher gehört. Dein Platz war stets hier bei uns, und so wird es auch bleiben.“ Einen Augenblick betrachtete er sie eingehend, ehe er nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn strich. Sein Zögern verunsicherte Lily. „Um eine Sache bitte ich dich allerdings.“ Er hielt kurz inne und sah zu Boden. „Geh nicht allein in den Wald. Vor allem nicht in der Dunkelheit.“
Verwirrt sah sie hinaus. „Warum denn das? Ich war immer allein draußen. Du weißt, ich kenn‘ mich aus …“
Eilig winkte Liam ab. „Das ist es nicht! In letzter Zeit gab es hier nur … seltsame Vorkommnisse. Wir denken, es sind Wölfe oder irgendwelche anderen wilden Tiere dort unterwegs. Einige Menschen wurden bereits verletzt.“ Sein Blick richtete sich wieder auf ihr Gesicht, und er sah ihr fest in die Augen. „Sehr schwer verletzt.“
Lily betrachtete den Wald und fühlte nach wie vor die starke Anziehungskraft, die von ihm ausging. Sie seufzte und blickte wieder in Liams wachsame, blaue Augen. „Gut. Ich geh nicht allein dorthin.“
„Versprich es mir!“, bat ihr Onkel, und sie nickte zögerlich. „Okay, wir sehen uns später. Ich werde Bill beauftragen, das größte Willkommensessen zu zaubern, das du je gesehen hast.“
Damit wandte er ihr den Rücken zu und verschwand im Flur. Lily blickte ihm nachdenklich hinterher, bis Caitlin durch den geöffneten Küchenbereich auf sie zukam. „Komm, lass uns jetzt deine Sachen auspacken. Ich helfe dir dabei.“
Sie folgte ihr in die erste Etage mit den drei Zimmern. Eins war ein Büroraum, in dem Liam seine Abrechnungen des Pubs erledigte. Zwischen den Räumen lag ein geräumiges Bad mit Badewanne und Dusche. Lily erklomm die letzten Stufen hinauf zum Dachgeschoss. Dies war der absolut schönste Raum im ganzen Haus, und sie fragte sich jedes Mal, warum das nicht das Schlafzimmer von Caitlin und Liam war.
„Es war immer schon dein Zimmer. Niemals hätten wir es für uns nutzen wollen“, sagte Caitlin, als hätte sie ihren Gedanken gelauscht. „Wir hätten uns deine Heimkehr nur viel eher gewünscht.“
Lily wurde verlegen. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand Wert darauf legte, sie bei sich zu haben. „Ich fühle mich seit Langem ganz wie zu Hause. Danke, wirklich!“
„So hätte es schon immer sein sollen“, murmelte Caitlin und deutete dann auf zwei Kartons. „Die hat deine Mutter mit dem Eilkurier hierhergeschickt. Sie kamen heute Morgen an.“
Sie starrte darauf und konnte es nicht fassen. „Sie konnte es wohl kaum abwarten, mich und all diese Sachen so schnell wie möglich loszuwerden, was?!“ Bitterkeit war in den vergangenen Jahren zu einem stetigen Begleiter geworden, und das brennende Gefühl verwundert sie nicht, das ihr galleähnlich die Kehle hochkroch. Sie wollte sich daran machen, die Kartons zu öffnen, als Caitlin sie an die Schulter fasste und zurückhielt.
„Vielleicht wollte sie nur, dass du dich wohlfühlst und alle Sachen um dich hast, die dir etwas bedeuten.“ Caitlin seufzte.
Schöne Worte und eine ebenso schöne Vorstellung, doch die Zeit in Harolds Haus hatten Lily von solchen Hoffnungen gänzlich befreit. Caitlin hatte keine Ahnung, wie kalt es in ihrem alten Zuhause wirklich gewesen war. Das hatte Lily nun endgültig hinter sich gelassen. Sie hatte nicht vor, jemals dorthin zurückzukehren.
„Ich weiß, Liam lässt nur selten ein gutes Haar an deiner Mutter …“
Als Lily in Caitlins Augen sah, entdeckte sie Kummer darin, und eine große Sorgenfalte breitete sich auf der Stirn ihrer Tante aus.
„Vergiss aber nicht, dass sie trotzdem deine Mutter ist, und es womöglich gute Gründe dafür gibt, dass sie so geworden ist.“ Nur einen Wimpernschlag später war ihre Tante wieder ganz die Alte. „Nun aber genug davon!“ Entschlossen schüttelte Caitlin den Kopf, sodass die roten Locken wippten. Sie war eine dieser unglaublich glücklichen Frauen, die im Alter eher schöner zu werden schienen als zu verwelken. In den großen, grünen Augen blitzte der Schalk. „Was hältst du von einem Frauenabend? Wir könnten im Pub essen gehen und es uns danach hier zu Hause gemütlich machen? Ich will alles über die letzten Monate bei den Harolds wissen. Gibt es neue Gerüchte? Fruchtsäurepeelings, die schiefgegangen sind oder Ähnliches? Vielleicht auch irgendwelche Skandale der Oberschicht, die ich nicht glauben werde?“
Lily stimmte in das Gelächter mit ein, und die trüben Gedanken waren wie fortgewischt. Es ging gar nicht anders. Caitlins Lachen war einfach ansteckend. Sie packten die Bücher in das freistehende Regal und räumten die Klamotten in den Schrank. Alles in diesem Raum war hell und geräumig. Große Fenster gaben den Ausblick auf den Wald frei und würden die Sonne ins Zimmer lassen, sollte es jemals aufhören zu regnen. Die Wände waren hier sonnengelb gestrichen und mit seltsam, verschlungenen Linien und Mustern verziert. Lily hatte sich hier immer besonders wohlgefühlt, und doch war da diese leise zaghafte Stimme in ihrem Kopf, die diesem Gedanken widersprach. Bilder einer Blumenwiese tauchten vor ihrem inneren Auge auf, die sie heute bereits schon einmal betrachtet hatte.