JAY
Frustriert warf er den Schläger auf den Boden und setzte sich auf die Bank, während die tadelnden Worte seines Trainers auf ihn einprasselten. Die besorgten Blicke, die ihm Greg, sein Coach oder der Eisfisch, wie man ihn in der Eishockeyszene nannte, zuwarf, halfen nicht, dass er sich besser fühlte. Er war viel zu nachsichtig mit ihm. Jay hatte jedes Training der letzten Tage versaut: Kein Pass kam dort an, wo er hingehörte, und über seine körperliche Fitness konnte man im Augenblick nur müde lächeln. Er nahm einen Schluck aus der Trainingsflasche und verteilte den Rest im Gesicht, in der Hoffnung, dass diese Erfrischung ihn von diesen trüben Gedanken ablenken würde.
„Cap, du bist dran“, blaffte Greg ihn an. Jay berührte mit den Kufen das Eis und wurde nach wenigen Zügen wieder eins mit der spiegelglatten Fläche. Statt zu passen, verlor der Puck sich in Richtung ihres Torhüters. Mit verschränkten Armen schüttelte ihr Coach den Kopf über die unerfreuliche Szene, die sich daraufhin zwischen Ike und Neil abspielte. Der Stürmer war ungebremst in ihren Keeper gerauscht. Eine unnötige Gefahr für den besten Torwart der Saison, und alles nur, weil Jay unfähig war, sich auf das Training zu konzentrieren. Sie konnten sich keine weiteren Verletzten leisten. Nicht jetzt, da zwei bereits auf der Bank saßen und er noch nicht zu hundert Prozent fit war.
Vor fast sechs Wochen hatte er sich im harten Spiel gegen die Arizona Coyotes bei einem Bandencheck drei Rippen gebrochen, was zur Folge hatte, dass er sich wochenlang konsequent schonen musste. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich über die zusätzliche Freizeit gefreut. Er hätte die Tage ohne Probleme mit Zoobesuchen und Teepartys mit seiner kleinen Tochter Mia genossen, doch nicht in diesen Wochen. Jay zog eine Grimasse, weil seine Gedanken wieder abschweiften und er prompt seinen Einsatz verpasste.
„Fuck“, knurrte er und trat impulsiv gegen die Bande. Sein Trainer schwieg, ebenso wie seine Team-Kameraden. Das war das Unangenehmste. Wenn nicht mal Greg ihn anbrüllte, musste es schlimm um ihn stehen.
Der Coach pfiff sie alle zu sich.
„Wir beenden das Trauerspiel für heute“, verkündete er knapp und wartete wie Jay darauf, dass die Mannschaft in die Kabinen ging. Sie kannten sich gut genug, um zu wissen, dass das kommende Gespräch nicht für die Ohren der anderen bestimmt war. Jay wusste nicht, ob er ihm dankbar oder wütend auf ihn sein sollte. Nach zwei Jahren fühlte sich jeder mitleidige Blick in seine Richtung, jedes bekümmerte Wort wie ein Messer in seiner Brust an. Eine Wunde, deren Blutung niemand zu stillen vermochte – vor allem nicht im Moment. Jay zog den Helm vom Kopf und legte ihn auf die Bank, behielt jedoch den Stock in der Hand. Als könnte dieser ihn vor dem Gespräch mit Greg schützen.
„Jay“, begann Greg und hielt inne, als suchte er nach den richtigen Worten. Worte, die es nicht gab – niemand wusste es besser als Jay. Das wurde Greg offenbar auch klar. „Ich weiß, diese Zeit verlangt dir alles ab. Ich verstehe das und … bei Gott, ich schwöre, wäre ich in deiner Lage, ich würde vermutlich versuchen, mir die Leber zu ruinieren, um zum größten Säufer Chicagos zu mutieren.“ Greg strich sich durch das immer noch volle, jedoch ergraute Haar.
„Du weißt, ich trinke nicht. Aber du glaubst gar nicht, wie sehr ich mir das Vergessen im Suff herbeisehne, wie sehr ich schlafen will und einmal meine Augen schließen will, ohne ihr Gesicht vor mir zu sehen. Nur einmal … aber …“
„Mia“, sagte Greg mitfühlend, vermied es jedoch, ihn in eine tröstende Umarmung zu ziehen, wofür Jay ihm dankbar war. Er ertrug keine Nähe – von niemandem außer seiner kleinen Tochter und der Frau, die ihn nie wieder berühren würde. Das war eine Zeitspanne, mit der er manchmal nicht leben wollte. Eigentlich immer, aber dann erinnerte ihn eine Kleinmädchenstimme daran, dass dies keine Option war. Niemals.
„Vielleicht solltest du dir noch zwei Wochen Zeit nehmen, zur Ruhe kommen, dich auf Mia und deine Trauer konzentrieren …“
„Willst du mich verarschen?“, entfuhr es Jay aufgebracht. Heftig sprang er auf und - ohne so recht zu wissen, wie es dazu gekommen war - stand er nun unmittelbar vor Greg und starrte ihn ungläubig an. „Ich ertrage keine Auszeit, weder jetzt noch in Kürze. Ich muss diesen Schmerz betäuben, sonst halte ich es nicht aus.“
„Ich fürchte nur, dass der Druck zu viel für dich ist, Jay. Fahr mit Mia weg. Irgendwohin, wo dich nichts an Eileen erinnert.“
Ein spöttisches Lachen entwich ihm, das Greg ihm wahrscheinlich nur aufgrund seines Zustands durchgehen ließ. „Ich kann nirgendwohin, denn alles erinnert mich an meine tote Frau. Jeder Blick auf Mia erinnert mich an die Ungerechtigkeit in dieser verfickten Welt. Und wage es nicht, mich an Gott zu erinnern. Wenn es einen Gott gäbe, hätte er nie zugelassen, dass meine kleine Tochter ohne ihre Mutter aufwachsen muss.“ Seine Stimme brach. Ein Kloß bildete sich in Jays Hals und seine Augen brannten. Er presste entschlossen Daumen und Zeigefinger auf seine Augen und drängte die Tränen zurück. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er in einer solchen Situation die Beherrschung verlieren würde.
„Was kann ich tun?“, fragte Greg nach einer Weile leise.
„Schließ mich nicht vom Training aus.“
Greg und Jay sahen sich eine Weile stumm an, dann nickte sein Coach. „Versprichst du mir, dass du klarkommst?“
Jay nickte grimmig.
„Ich muss mich in dieser Hinsicht auf dich verlassen, Jay. Enttäusche mich nicht, nur weil du dir irgendwas beweisen möchtest!“
„Und du behandelst mich bitte nicht wie ein rohes Ei. Jedem anderen hättest du einen verbalen Einlauf verpasst, hätte er nur ein Viertel so schlecht gespielt wie ich. Ich ertrage kein Mitleid.“
„Kein Mitleid, mein Freund, sondern Mitgefühl. Vergiss nicht, uns fehlt sie auch.“
Jay nickte, obwohl er es bezweifelte. Nicht, dass er es ihm absprechen wollte, dass sie Eileen von Zeit zu Zeit wirklich vermissten. Doch keiner von ihnen blickte auf eine leere Bettseite und ein unberührtes Kissen, jeden Morgen, wenn er aufwachte, und jede Nacht, wenn er zu Bett ging. Sie fuhren nicht ohne Musik oder Radio Auto, weil niemand auf dem Beifahrersitz neben ihm saß und schrecklich schief mitsang, nur um ihm ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Keiner von ihnen musste die Tränen der kleinen Tochter ertragen, weil ihre Mommy nicht in den Kindergarten kam, um Kekse zu backen oder bei dieser verfickten Weihnachtsaufführung mitzumachen. Sie sahen nicht die verwelkten Blumen, die Eileen so geliebt und tagtäglich gepflegt hatte, und von denen nun eine nach der anderen einging, weil er unfähig war, sich darum zu kümmern. Sie hatte immer gewitzelt, dass er einen schwarzen Daumen hatte und ihre Blumen zu ihrer Mutter in Sicherheit gebracht, wenn sie für eine Woche auf Geschäftsreise gegangen war. Diese Erinnerung war so bittersüß, dass er erneut innehielt, bevor er in die Kabine ging, aus der das Grölen seiner Mannschaftskameraden drang.
Als er die Tür aufstieß und die Kabine betrat, verstummte der Schlagabtausch und Jay holte tief Luft. Er trat zu seinem Spind und ließ sich auf der Bank davor nieder. Als er das Schweigen um sich herum nicht länger ertrug, brummte er unwirsch: „Leute, was ist los mit euch? Tut nicht so, als sei jemand gestorben.“
Eine seiner Eigenarten war es, die Leute direkt mit der Nase auf ihr unangemessenes Verhalten zu stoßen. Er spürte die betroffenen Blicke in seinem Rücken und hielt inne in dem Versuch, den festen Knoten aus den Bändern seiner Schlittschuhe zu fummeln.
„Los, ihr Waschweiber, kümmert euch um euren Mist“, rief Neil und sorgte dafür, dass das Gerede wieder zunahm, ehe er sich breitbeinig auf die Bank neben ihm sinken ließ. „Du hast es echt drauf, Buddy, die Stimmung zu ruinieren.“
„Tut mir leid“, murmelte Jay und stützte den Kopf in seine Hände. „Ich hasse es, wenn ich mich so aufführe.“
„Ich genieße es“, sagte Neil ungerührt und grinste breit. „Endlich bist du mal nicht der ewig grinsende Sonnenschein und Moralapostel, mit dem sich keiner messen kann, und benimmst dich mal wie ein richtiger Dreckskerl. Dann stinke ich wenigstens nicht immer so ab neben dir.“
Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Jays Mundwinkeln, weil Neil ihn an seinen Bruder Cole erinnerte.
Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Er war sich nicht sicher. Ein Teil von Jay war sogar froh darum, der andere traurig. Eileen war es immer wichtig gewesen, dass sie sich nicht aus den Augen verloren. War er Neil vielleicht deswegen so zugetan, weil er ihn an Cole erinnerte?
Er mochte Neil Briggs vom ersten Moment an, als er mit seinem breiten Südstaatenakzent und dem Kaugummi, das er immer kaute, in diese Kabine gekommen war. Gleich zu Beginn hatte er es sich mit Joy, ihrer Sportmedizinerin und der Tochter des Chefs, verscherzt. Bei ihren Wortgefechten hatte es regelrecht Funken gesprüht, und dann waren sie beim Blizzard auch noch im Fahrstuhl stecken geblieben, was das Eis zwischen ihnen gebrochen hatte. Im Fahrstuhl waren sie förmlich in Flammen aufgegangen und dieses Feuer hatte sich bis heute nicht gelegt. Das war ein denkwürdiger Tag gewesen, und seine Anwesenheit im vergangenen Jahr hatte seine Tage besser gemacht. Neil war einer der wenigen Menschen, die ihn normal behandelten. Womöglich lag es daran, dass er Eileen nicht gekannt hatte oder er war einfach nur der richtige Kerl für diesen Job, denn er hatte sich zu einem sehr guten Freund gemausert.
„Ich sag dir was, Joy und ich kommen heute Abend vorbei. Die Mädels machen Pizza, während wir ein, zwei Bier trinken, ehe wir zum Abwasch gezwungen werden. Was hältst du davon?“
Jay seufzte. „Ein verlockendes Angebot, aber leider müssen wir passen. Mia ist gerade bei ihren Großeltern und meine Schwiegereltern haben mich zum Abendessen eingeladen.“
„Verfluchte Scheiße, wie sind sie denn auf die grausame Idee gekommen?“ Dies war einer dieser Momente, in dem Briggs ihn ohne viele Erklärungen verstand. Außer ihm schien niemand nachvollziehen zu können, warum er sich im Elternhaus seiner toten Frau unwohl fühlte.
„Wahrscheinlich befürchten sie, Mia und ich ernähren uns sonst nur von Pizza und Limo“, erwiderte Jay achselzuckend.
Neil drückte seine Schulter, neigte sich etwas vor und sagte so leise, dass die anderen ihn nicht hören konnten: „Wenn der Tag vorüber ist, wird es besser, ganz bestimmt.“
Jay strich sich durch sein blondes verschwitztes Haar. „Das ist es nicht … ich habe nur wieder so ein Gefühl.“
„Was für ein Gefühl?“
Jay begegnete Neils Blick. „Als würde etwas Grauenvolles geschehen.“
„Bist du etwa ein Orakel?“, witzelte Neil, ehe Jays ernste Miene ihn innehalten ließ. „Was soll das heißen?“
„Kurz vor … vor Eileens Unfall hatte ich auch dieses Gefühl. Damals haben sich alle darüber lustig gemacht und dann ist meine Frau gestorben. Einfach so.“
Neil starrte ihn sprachlos an. Etwas, das tatsächlich nie geschah. Dann verzog er betreten das Gesicht. „Ach was, das konntest du nicht wissen, und ganz ehrlich? Wenn mir früher jemand so etwas erzählt hätte, wäre ich vor Lachen umgefallen. Meinst du nicht, dass dieses Gefühl eher deswegen zurückkommt, weil Eileens Todestag näher rückt?“
„Vielleicht“, räumte Jay ein und schaffte es endlich, den Knoten zu lösen. „Aber was, wenn nicht?“
„Dann stehen wir das schon durch, klar?“, erwiderte sein Freund und drückte noch einmal seine Schulter. „Und wenn du einen Weg findest, dich vor dem Essen in der Hölle zu drücken, sag Bescheid. Joy und ich kommen gern.“
„Wohin?“, mischte sich eine Frauenstimme ein.
„Bambi“, rief Neil und stand von der Bank auf, um seine Freundin zu begrüßen. „Du hast doch nicht etwa gehofft, einen dieser heißen Jungs nackt zu sehen, oder doch?“
Joy Harrington lachte und erwiderte: „Nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte und mich noch beeindrucken könnte.“
„Gute Antwort“, lobte Jay augenzwinkernd und sah zu Neil, der die Stirn runzelte.
„Ich weiß ja nicht. Die Tatsache, dass du all diese Typen nackt gesehen hast, macht mich irgendwie nervös.“
„Dich macht etwas nervös?“, wollte sie ungläubig wissen und schüttelte den Kopf. Mittlerweile waren sie schwer verliebt, und sie waren seine engsten Freunde. Aber allein ihr Anblick machte es ihm oft schwer, sich nicht von der nächsten Brücke stürzen zu wollen. Natürlich nur im übertragenen Sinne, denn der Freitod war keine Option für ihn.
„Auch ein harter Südstaatenkerl wie ich hat Gefühle.“
„Tatsächlich? Dann wird es wohl Zeit, dass ich dein Ego etwas stärke“, sagte Joy schmunzelnd und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Jay wandte sich ab und machte sich daran, seinen Spind zu öffnen. Sein Blick streifte das Foto seiner Frau.
Ihr engelsgleiches Lächeln und ihre langen blonden Haare glichen denen seiner Tochter bis in die Spitzen. Er wühlte in seiner Tasche und bekam sein Handy zu fassen. Eine Routine, die sich in den letzten Jahren festgesetzt hatte. Immer wenn er länger nicht auf sein Handy gesehen hatte, checkte er es, um sich zu vergewissern, dass keine Katastrophe eingetreten war. Als er es jetzt anmachte, zeigte es sechs verpasste Anrufe und Mailboxnachrichten von seinen Schwiegereltern. Das ungute Gefühl, das ihn seit Tagen kaum noch los und beinahe paranoid werden ließ, ergriff ihn wieder. Anstatt die Nachrichten auf der Mailbox abzuhören, wählte er die Nummer seiner Schwiegermutter.
„Was ist passiert, Grace?“, stieß er mit brüchiger Stimme aus.
„Oh Gott sei Dank, Jay“, schluchzte sie ins Telefon und ein Klumpen Eis bildete sich in Jays Magen. „Es ist Mia.“
„Was ist mit ihr?“, drängte er schroff.
„Sie ist verschwunden!“
* * *
Jay betätigte zum wiederholten Male die Hupe, um die Wagen vor sich dazu zu bewegen, schneller zu fahren. Der rationale Teil in ihm wusste natürlich, dass sie sich weder in Luft auflösen noch etwas an der Ampelschaltung ändern konnten. Doch sein Verstand funktionierte seit Graces Anruf nicht mehr richtig, war regelrecht unter einem Berg Panik verschüttet worden. Die Angst um sein kleines Mädchen fraß sich durch seine Eingeweide. Es kam ihm vor wie ein Wunder, dass er unfallfrei durch den dichten Feierabendverkehr rund um den Lincoln Park kam. Obwohl er nicht mehr klar denken konnte und jede Sekunde sich wie eine Ewigkeit anfühlte, stand für ihn fest: Sollte er auch noch sein kleines Mädchen verlieren, würde er höchstpersönlich jede Wolke erklimmen, um diesem sogenannten Gott an den Kragen zu gehen.
„Tief durchatmen, Jay“, beruhigte Joy ihn, die mit in seinen Wagen gestiegen war. Neil hingegen hatte die restlichen Jungs und ihren Coach informiert und befand sich wahrscheinlich nur wenige Autos hinter ihm.
„Was um alles in der Welt soll das bringen?“, brüllte er aufgebracht.
Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war jemand, der ihm sagte, er solle ruhig bleiben. Wie sollte das gehen? Sein Herz, sein Leben, einfach alles, was ihn morgens dazu antrieb, sein Bett zu verlassen, war verschwunden.
Joy zuckte erschrocken zusammen, doch Jay war das egal. Alles woran er denken konnte, war Mia und die Angst, die sie womöglich gerade aushielt, weil sie irgendwo allein war. Vielleicht hatte sie sich verlaufen? Oder war sie entführt worden? Sein Magen zog sich bei dem Gedanken heftig zusammen und Angstschweiß trat auf seine Stirn. Aufgrund seines Bekanntheitsgrades war das immer eine Sorge, die ihn umgab, weswegen kaum Fotos von ihm und seiner Tochter in der Öffentlichkeit existierten. Es gab sicherlich genug schlechte Menschen auf der Welt, die ihn gerne um einen Teil seines Geldes bringen würden, egal wie. Andererseits wäre das noch die glimpflichere Situation. Er würde, ohne zu zögern, alles geben, was er besaß, wenn er nur sein kleines Mädchen wiederbekäme. Er kämpfte mit Tränen, die seine Sicht trübten, und wischte sie sich entschlossen aus den Augen. Es gab nämlich auch kranke Typen, die andere Interessen verfolgten als Geld. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde ihm übel. Die Wut und die feste Entschlossenheit, jedem, der seinem Kind auch nur ein Haar krümmen wollte, mit bloßen Händen zu erwürgen, halfen ihm, die Tränen zurückzudrängen.
„Ich muss zu ihr, Joy. Ich muss Mia finden.“
„Ich weiß“, murmelte sie und legte eine eiskalte Hand auf seinen Unterarm. Ein Zeichen ihrer eigenen Anspannung. „Es bringt aber nichts, wenn du einen Unfall verursachst. Dann kannst du Mia gar nicht helfen.“
„Verfickte Scheiße“, fluchte er ungehalten und schlug auf sein Lenkrad ein. Doch das Gefühl der Hilflosigkeit ließ nicht nach. Nach den längsten zwanzig Minuten seines Lebens fuhr er auf den überfüllten Parkplatz des Lincoln Parks zu. Sein rasantes Tempo ließ zwei Leute zur Seite springen und ihn wüst beschimpfen, als er stoppte und die Tür aufstieß, aber er ignorierte sie. Hastig stieg er aus und eilte auf die kleine Menschentraube am Rand des Parkplatzes zu. Dort standen mehrere Polizeifahrzeuge, doch bevor er sie erreichte, kam sein Schwiegervater Paul ihm entgegen.
„Wir haben sie!“, rief er und die panische Angst fiel nach der Entwarnung wie ein Felsen von Jay ab. Paul legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Wir haben sie gefunden“, wiederholte er und seine Berührung ließ Jay kurz innehalten. Er stützte seine Hände auf die Knie und atmete tief durch, ehe er sich wieder aufrichtete.
„Wo ist sie? Ich muss zu ihr.“ Der einzige sichere Ort, an den Mia jetzt gehörte, waren seine Arme.
„Natürlich.“ Paul bahnte ihnen einen Weg durch die Menge und endlich erblickte Jay das kleine blasse Mädchen, eingewickelt in eine Wärmedecke auf einer Bank. Grace hatte einen Arm um sie gelegt und eine Sanitäterin prüfte gerade Mias Vitalfunktionen.
„Keks“, stieß er den Kosenamen seiner Tochter aus und ging vor ihr auf die Knie.
„Daddy!“
Sie glitt von der Bank und sank in seine Arme, die er fest um sie schloss. So schnell würde er sie nicht wieder loslassen. Er drückte sie an sich, hielt sie fest und spürte das Beben, das ihren winzigen Körper durchlief. Dies war der einzige Ort, wo sie für den Rest ihres Lebens hingehörte, entschied der weniger rationale Teil in ihm, der nach wie vor die Überhand hatte.
„Oh Gott sei Dank.“
Er hörte, wie Joy zu ihnen aufschloss und einen erleichterten Seufzer ausstieß. Nach einer schier endlosen Ewigkeit schob er Mia eine Armlänge von sich und betrachtete sie eingehend. Die blauen kummervollen Augen sahen in seine und ihre Unterlippe bebte bedenklich.
„Geht es dir gut?“ Mia nickte zwar, doch Jay blickte sicherheitshalber zu der Fachfrau, die geduldig neben ihnen wartete. „Ist sie okay?“
Die Sanitäterin lächelte verständnisvoll. „Alles in bester Ordnung. Ihr war kalt, deswegen haben wir ihr eine Decke gegeben.“
„Bist du böse?“, fragte Mia leise, als die Sanitäterin sie allein ließ.
Jay seufzte und strich durch sein Haar, das wahrscheinlich in alle erdenklichen Richtungen abstand, so oft, wie er seit dem Telefonat mit Grace mit seinen Händen hindurchgefahren war. „Was ist überhaupt passiert? Hast du dich verlaufen?“
Als Mia nur betreten auf den Boden schaute, bemerkte er das erste Mal Graces schuldbewusste Miene. „Wir waren vor dem Tigergehege und in einem Moment stand sie noch neben mir und im nächsten war sie verschwunden.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Es tut mir so leid, Jay. Ich weiß … ich hätte mir nie verziehen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre.“
Und er ihr auch nicht, dachte er und presste die Lippen aufeinander, um nichts dergleichen zu sagen. Er wusste durchaus, wie flink seine Kleine war, und hatte es häufiger am eigenen Leib erfahren, als er zu diesem Zeitpunkt eingestehen wollte. Dennoch gab es keine Entschuldigung dafür, sein Mädchen zu verlieren. Er nickte nur, weil er die Situation mit seinen Schwiegereltern nicht noch verschärfen wollte. Die Stimmung war ohnehin schon angespannt, seit Grace in einem Moment voller Trauer, ihm die Schuld am Tod ihrer Tochter gegeben hatte. Obwohl Paul die Situation später hatte schlichten können, steckte dieses Messer immer noch in seiner Brust.
„Weil ein Teil in dir ihr zustimmt“, hallte eine leise Stimme in seinem Kopf wider. Eine Stimme, die er die meiste Zeit ignorierte. Diesen Dämonen stellte er sich nur in seinen dunkelsten Stunden, wenn die Finsternis nicht abzuwenden war, und keine kleine Mädchenstimme sie mit Licht verdrängte. Er schluckte.
„Wo hast du nur gesteckt?“, fragte er, bemüht, den Vorwurf aus seiner Stimme zu verdrängen. Sie ließ von ihm ab und setzte sich wieder auf die Bank. Die kleinen Finger seiner Tochter verschränkten sich und ihr Körper bebte.
Zärtlich strich er ihr ein paar widerspenstige Locken aus der Stirn und beruhigte sie leise: „Du weißt, du kannst mir alles sagen, Keks. Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander, oder hast du unser Versprechen vergessen?“ Er hielt ihr seine Hand hin, damit sie ihren ganz eigenen Begrüßungshandschlag vollziehen konnten. Zögernd griff sie zu und vollzog mit ihm ihr Vater-Tochter-Ritual. Zuerst verhakten sie ihre kleinen Finger miteinander – ein Versprechen, dass er immer für sie da war -, dann berührten sich ihre Daumen und ihre Fäuste stießen gegeneinander, ehe sie mit einem zischenden Geräusch wie eine Rakete in die Luft sausten. Ein Lächeln schlich sich auf ihre engelsgleichen Züge. Gott, er liebte dieses Wesen so sehr und er fragte sich oft, womit er sie nur verdient hatte.
„Also, wo bist du gewesen?“
„Bei Mommy“, platzte es aus ihr heraus und Jay erstarrte. Er spürte, wie ihm seine Mimik für wenige Sekunden entgleiste und hörte, dass Grace erschrocken die Luft einsog. Mias Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wusste, du würdest böse werden.“
„Bei Mommy?“, echote er, um Zeit zu gewinnen. „Aber, Keks, du weißt doch, dass Mommy im Himmel ist und …“ Er schluckte, bevor er den nächsten Satz sagte. „… sie leider nicht wieder zu uns kommen kann.“
„Aber sie war da!“, ereiferte Mia sich und verschränkte trotzig ihre Ärmchen vor der schmächtigen Brust.
„Das ist unmöglich“, entfuhr es Grace und der Ton, der in ihrer Stimme mitschwang, war unerwartet kühl. Er betrachtete die Mutter seiner toten Frau und sah den Schmerz in ihren Augen. Er verstand es. Von Zeit zu Zeit war es schwierig, die kindliche Trauer zu begleiten, aber meistens spendete es ihm auch Trost und Kraft. Es vermittelte ihm das Gefühl, nicht allein damit zu sein. Es gab eine Reihe von imaginären Freunden, die ihr immer wieder Nachrichten ihrer Mom überbrachten und sogar Geschichten über sie erzählten. Das war wahnsinnig schmerzhaft, aber auch tröstend.
Jay holte tief Luft und griff nach Mias Arm. Besänftigend streichelte er sie. Sie hatte schon häufiger unschöne Erfahrungen sammeln müssen, weil andere mit Unglauben auf das reagierten, was sie ihnen erzählte. Das war jedes Mal aufs Neue schwer gewesen. Wie oft hatte er sich in der Vergangenheit mit der Erzieherin und jetzt mit der Lehrerin unterhalten müssen, weil es Kinder gab, die Mia deswegen ärgerten. Das brach sein Herz jedes Mal aufs Neue.
„Vielleicht hast du geglaubt, dass sie dort war. Weißt du, ich vermisse sie oft so sehr, dass mich manchmal andere Frauen auch für einen winzigen Moment an sie erinnern.“
„Es war Mommy!“, bekräftigte sie erneut.
„Du darfst nie wieder zu Fremden laufen, verstehst du das, Mia?“, entfuhr es Grace hart.
„Aber das war doch keine Fremde. Ich bin nur zu Mommy gegangen.“
Grace schüttelte nur den Kopf und wandte den Blick von ihr ab.
„Hör zu, Mia, wenn du denkst, Mommy sei dort, dann geh in Zukunft bitte trotzdem nur mit Granny, Grandpa oder mir dorthin, ja?“, bat Jay und drückte Mia an sich.
„Krieg ich jetzt Ärger?“
Zärtlich hauchte er einen Kuss auf ihr weiches Haar, das nach Pfirsichshampoo roch. Er liebte diesen Duft. Nicht nur, weil er zu Mia gehörte, sondern weil Eileen der gleiche Geruch umgeben hatte. „Nein, ich möchte nur, dass du mir versprichst, nie wieder allein fortzugehen. Auch nicht, wenn du Mommy siehst.“ Vor allem dann nicht, fügte er gedanklich hinzu. Dieses Gespräch würde er unter vier Augen mit ihr führen.
„Indianerehrenwort.“ Jay suchte Joys Blick, die gerade telefonierte und sofort auflegte, als sie ihn bemerkte. „Sagst du Granny und Grandpa auf Wiedersehen und gehst mit Joy zum Auto? Ich komme sofort nach.“
Gehorsam gab sie Grace einen Kuss auf die Wange, obwohl er ihren Widerwillen spürte, und ließ sich von ihrem Großvater in eine kurze Umarmung ziehen. Dann nahm Joy sie fest an die Hand und führte sie aus der Menschenmasse.
Jay sah ihr hinterher, wandte sich dann an den Polizisten, der die ganze Zeit respektvoll Abstand gehalten hatte, und bedankte sich für seine Hilfe bei der Suche nach seiner Tochter. Die Aufregung legte sich langsam und er wandte sich schlussendlich an Paul und Grace.
„Du glaubst diesen Unsinn doch nicht etwa, oder?“, überfiel ihn Grace, kaum dass Mia außer Hörweite war.
Paul legte beschwichtigend eine Hand um die Schulter seiner Frau. Jay sah, wie aufgeregt sie war. Schuldgefühle, die sie zweifellos wegen Mias Verschwinden hatte, waren eine furchtbare Last.
Gut so, dann weiß sie wenigstens, wie es sich anfühlt, dachte er grimmig. Der Gedanke kam schneller, als er ihn unterdrücken konnte. Es half nichts, irgendwem für einen Unfall die Schuld zu geben. Niemandem war es möglich, die Zeit zurückzudrehen und es brachte gewiss auch keine Menschen zurück. In Mias Fall war es jedoch anders. So etwas durfte nicht wieder geschehen.
„Diesen Unsinn?“
„Dass sie weggelaufen ist, weil sie angeblich ihre Mutter gesehen hat.“
„Grace, Mia ist sechs Jahre alt und hat vor zwei Jahren ihre Mom verloren. Kinder sind erfinderisch, wenn es um Trauerbewältigung geht.“
„Glaubst du, das weiß ich nicht? Immerhin hatte ich auch ein Kind, das jede Menge Fantasie besaß. Oder denkst du, weil Eileen nicht mein leibliches Kind war, dass es einen Unterschied macht?“
„Keiner hat etwas in dieser Hinsicht gesagt, Liebling“, redete Paul beruhigend auf sie ein. Wie immer war er ihr Fels, der sie davor bewahrte, völlig den Halt zu verlieren.
„Ich sehe doch, wie er mich ansieht. Er gibt mir die Schuld dafür, dass Mia fort war.“
„So wie du mir die Schuld für den Tod deiner Tochter gegeben hast, nicht wahr?“ Die harten Worte waren schneller heraus, als er darüber nachdenken konnte.
Graces Augen füllten sich mit Tränen. „Ich war in Trauer. Ich hatte gerade meine einzige Tochter verloren. Da sagt man schon mal Dinge, die man hinterher bereut.“
Und doch so gemeint hat, vervollständigte er in Gedanken. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie es genau so empfand. „Und so ist es bei Mia auch. Sie hat etwas Unüberlegtes getan. Es ist das zweite Weihnachten ohne Eileen und der Todestag rückt näher. Vielleicht wollte sie ihre Mom einfach so dringend sehen, dass sie sie tatsächlich gesehen hat. Wer weiß denn schon, was in ihrem kleinen Köpfchen vor sich geht? Außerdem, nur weil wir etwas nicht sehen können, heißt es nicht, dass es nicht dennoch da ist. Wichtig ist nur, dass wir besser auf sie achten.“
„Dann lässt du uns trotzdem wieder mit ihr in den Zoo gehen?“, fragte Grace hoffnungsvoll und er lächelte, weil ihm der wahre Grund für ihr seltsames Verhalten klar wurde. Sie hatte Angst, er könnte ihr ihre Enkelin nach dem Vorfall vorenthalten.
„Natürlich dürft ihr sie sehen und mit ihr in den Zoo, zum Eislaufen oder dem Weihnachtsmann gehen, wie ihr es geplant habt. Sie ist eure Enkelin und ihr seid Eileens Eltern. Ihr seid ein wichtiger Teil in Mias Leben. So wird es immer bleiben. Niemand kannte Eileen länger als ihr und Mia soll jede Erinnerung an ihre Mom bekommen, die sie kriegen kann.“
Nun flossen die Tränen über Graces Gesicht und sie umarmte ihn impulsiv. „Danke, Jay.“
Er verabschiedete Paul und Grace und wandte sich der Stelle zu, auf die seine Tochter gezeigt hatte. Bevor er sich zum Gehen wandte, nahm er eine Frau wahr, die ihm den Rücken zugewandt hatte. Blaue Strähnen zierten ihr blondes, etwas struppiges rückenlanges Haar. Sie trug einen abgenutzten Rucksack und hatte ein paar Kopfhörer auf den Ohren, während sie davonging. Für den Bruchteil einer Sekunde frage er sich, ob es schaden würde, sicherzugehen, dass diese Frau nicht Eileen war. Dann schüttelte er über sich selbst den Kopf und lächelte traurig. Eileen war tot, egal wie sehr er und Mia es sich anders wünschten.
Jay wandte sich zum Auto um und blieb wie angewurzelt stehen. Eine neue Menschenansammlung hatte sich nun um sein Auto gebildet. Seine Teamkameraden standen alle um den Van herum und Bear, ihr Defense-Spieler, trug Mia auf seinen Schultern, während sie glücklich an einem Lolly schleckte, den ihr garantiert Mika gegeben hatte. Greg lächelte ihm zu, während er weiter auf seine einzig wahre Familie zulief, die schon auf ihn wartete. Und für einen winzigen Augenblick war alles gut.
* * *
HOLLY
Der Anblick der niedlichen Tiere hatte Holly schon immer beruhigt. Der watschelnde Gang der Pinguine, der so herrlich tollpatschig wirkte, und diese Fürsorglichkeit, mit der sie ihre Jungtiere umsorgten, hatten sie seither für sie eingenommen. Natürlich steckte so viel mehr dahinter, sie brauchte kein Tierpsychologie Studium, um das zu erkennen. Seit jeher hatten Tiere sie besänftigt, doch mit diesem Zoo verband sie ganz besondere Erinnerungen. Während andere Teenager Zoobesuche langweilig fanden, hatte sie sich jedes Mal auf diesen Ausflug gefreut. Heimkinder kamen nur selten in den Zoo. Ihre Freude daran ging auf die wenigen Erinnerungen an ihre erste und einzige richtige Familie zurück. Es erinnerte sie an Menschen, die sich ehrlich für sie interessiert hatten, bereit gewesen waren, ihr ein Zuhause zu geben.
Ihr Magen zog sich bei diesem Gedanken schmerzhaft zusammen. Sie versuchte so oft wie möglich das Bild der Frau, die sich ihr gegenüber als einzige wie eine Mutter verhalten hatte, in Erinnerung zu rufen, doch diese wurde von Jahr zu Jahr blasser. Ihre Adoptivmom war an Krebs erkrankt und hatte diesen Kampf innerhalb kürzester Zeit verloren. Damals war Holly gerade erst sechs Jahre alt gewesen und hatte bereits die wichtigste Regel des Universums lernen müssen.
Das Leben war ein Arschloch.
Es nahm einem rücksichtslos die Menschen, die man am meisten liebte, und man war töricht, wenn man sich emotional an jemanden band. Auch wenn das Bild ihrer Adoptivmutter schwächer wurde, erinnerte sie sich nur zu gut an das Gesicht ihres Adoptivvaters, wie verzweifelt er gewesen war und wie er geweint hatte, als sie nur einen Tag nach der Trauerfeier von einer Frau vom Jugendamt abgeholt wurde.
Er hatte seine Arbeit verloren, weil er sich um ihre Mutter hatte kümmern müssen, und die hohen Behandlungskosten seiner Frau hatten ihn in den finanziellen Ruin getrieben. Dieser Tag hatte nicht nur ihr Leben zerstört, da war sie sich sicher, und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht fragte, zu welcher Frau sie wohl herangewachsen wäre, wenn das Schicksal nicht so eine Bitch gewesen wäre. Wäre sie dann weniger zerbrochen und traurig, würde sich weniger verloren fühlen?
Andererseits wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit keine so starke Kämpferin geworden und hätte auch nicht die Kraft oder den Mut gehabt, mit einem Sack voller Klamotten von einem Moment auf den anderen und ohne festes Ziel vor Augen in den Bus ins Nirgendwo zu steigen. So war sie eben. An keinem Ort hielt es sie lang genug und der Drang weiterzuziehen nahm auch nicht ab. Wobei Chicago eine Ausnahme zu bilden schien, denn als sie den Bus-Stopp auf der eingeblendeten Route gesehen hatte, kam sie sich irgendwie verpflichtet vor, dort einen Halt zu machen, ehe sie weiter Richtung Westküste zog. In Chicago hatte sie zumindest die glücklichsten sechs Jahre ihres Lebens verbracht.
Ein Pinguin landete in seinem Becken und tauchte ab, was ihr trotz der trüben Gedanken ein Lächeln entlockte. Mit Tieren war alles so viel einfacher. Sie waren nicht selbstsüchtig oder missgünstig wie Menschen. Sie benutzten niemanden für ihre Zwecke, nur um ihnen im Anschluss ein Messer in den Rücken zu stechen. Sie waren ehrlich und töteten nur, um zu überleben.
Nach einer Weile setzte Holly sich in Bewegung und kaufte sich an einem der unzähligen Essensstände einen Hotdog. Sie hatte solchen Hunger, dass sie das Würstchen förmlich inhalierte. Das musste für diesen Tag genügen. Schließlich sollte ihr Geld noch für eine Bleibe für die Nacht reichen.
Ihre schlechten Erfahrungen mit Couchsurfing reichten für ein ganzes Leben und so sollte es dieses Mal zumindest ein Hostel sein. Ab morgen würde sie sich für ihre Zeit in Chicago um eine längerfristige Unterkunft bemühen, die etwas preisgünstiger war. Vielleicht ergab sich ja etwas über eins dieser Hostels, deren Wände immer mit Annoncen zugekleistert waren.
Als sie am Löwengehege vorbeikam, bemerkte sie einen Tumult, beachtete ihn jedoch nicht weiter. Alles, was sie wollte, war, sich zur Abwechslung mal aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Dies musste ein Restart werden, und zwar von Grund auf.
„Es gibt kein Happyend, nicht für dich“, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. „Alles, was du bekommst, ist ein Freiflug in die Finsternis.“ Sie presste die Lippen zusammen. So etwas wie ein Happyend gab es nicht, weswegen sie aufgehört hatte, Bücher zu lesen. Denn all diese Geschichten nährten die Hoffnung in ihr, dass eines Tages womöglich doch alles gut werden könnte.