Lucy verabschiedete sich mit den Werten der Blutproben der Rinder von der Gordon Farm von Goerge und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, als sie auf etwas trat und den Halt verlor. Ein Mann, den sie kaum bemerkt hatte, griff nach ihr und bewahrte sie vor einem Sturz. Darrell. Er hielt sie sanft fest und begegnete ihrem perplexen Blick mit Amüsement. „Hoppla, so eilig?“
„Heilige Scheiße“, maulte sie sofort los, weil ihr beim Ausfallschritt der Fuß umgeknickt war. „lieber Gott!“
„Ich bin es nur“, entgegnete er und fügte hinzu: „Gut, es mag die eine oder andere Parallele geben …“
„Rede keinen Unsinn.“ Sie verzog schmerzhaft das Gesicht und humpelte undamenhaft fluchend auf einem Fuß herum.
„Oh nein, du hast dir echt was getan. Entschuldige.“ Er hielt ihr beide Arme hin, um sie zu stützen.
„Fuck. Fuck. Fuck.“ Sie krallte sich an seinen Unterarmen fest und sah in die grünen Augen, die wieder diesen schuldbewussten Blick draufhatten.
„Tut es sehr weh?“
„Ich muss wieder rein.“
Er stützte sie über die Schwelle und griff schlussendlich unter ihre Kniekehle und hob sie auf den Arm, was sie mit einem Aufschrei kommentierte und Goerge anlockte, der sie mit weitaufgerissenen Augen ansah. „Was ist denn hier los?“
„Na, wonach sieht es denn aus, Kumpel? Lucy hat sich verletzt“, erklärte er und setzte Lucy auf der Liege, die sonst für die Tiere bestimmt war, ab. „Ist es das Knie oder der Fuß?“, fragte er und begann sofort, Lucys Bein abwärts zum Fuß abzutasten.
„Der Fuß, Darrell!“
Sanft zog er am Reißverschluss des Schuhs und schob ihn über die Ferse, ebenso wie ihren Socken. „Dieser kleine Kerl hat dir schon am College Ärger gemacht! Ist er nicht schuld daran, dass du Leichtathletik drangeben musstest?“ Lucy konnte kaum sprechen, was weniger mit dem Schmerz als mit Darrells Berührung ihrer Haut zu tun hatte. Es war kaum zu beschreiben, welche Gefühle er in ihr auslöste und die Erinnerung, die diese Pose in ihr wachrief. Darrell kniete auf einem Bein vor ihr, hatte ihren Fuß auf seinem Oberschenkel platziert und sah sie auf eine Weise an, die verboten gehörte. Er umfing ihren nackten Knöchel, tastete daran und bewegte ihn vorsichtig, ohne den Fuß überhaupt wirklich anzusehen. „Er scheint geschwollen und heiß zu sein.“ Lucy entwich ein Kichern, wegen seiner Zweideutigkeit und Darrell grinste verlegen. Eine kleine Weile schauten sie sich einfach nur an. Erst Georges Räuspern erinnerte sie beide, dass sie nicht allein waren.
„Das Untersuchen übernimmt besser der anwesende Arzt!“ Goerge schob Darrell unsanft beiseite und ergriff Lucys Fuß mit seinen Wurstfingern. Der Anblick wie Goerge zwar fachmännisch, jedoch wenig feinfühlig an dem Fuß herumdokterte, führte ihr einmal mehr vor Augen, warum aus ihr und Goerge in den vergangenen Monaten kein Paar geworden war.
Darrell blickte sich um. „Du hast also tatsächlich Paynes Praxis übernommen? Wahnsinn! Es sieht noch genauso aus wie früher.“
„Wir sind Partner!“, verkündete Goerge unterkühlt.
Lucy nickte bestätigend und warf Darrell einen bedeutsamen Blick zu. „Goerge ist Paynes Neffe und wir teilen uns die Einsätze, was mir wenigstens jedes zweite Wochenende ein paar freie Stunden einräumt.“
Lächelnd wollte Darrell gerade etwas erwidern, als Goerge hinzufügte: „Leider bedeutet das auch weniger freie Zeit für uns beide zusammen.“
Darrell hielt inne und sah unsicher zwischen Lucy und Goerge hin und her. Lucy rollte mit den Augen. „Nun ja, es gibt Schlimmeres!“ Dann sah sie zu Darrell. „Was tust du überhaupt hier?“
„Äh …“ Ertappt steckte er die Hände in seine Hosentaschen und lehnte sich mit seinem Hintern, der in der Jeans besonders gut zur Geltung kam, an den alten Schrank. „Weißt du … mein Dad meinte … ich sollte …“
„Genau, es ist reichlich spät. Die Praxis hat längst geschlossen.“
„Nun ich war einige Zeit nicht in der Stadt, was es unmöglich macht eure Öffnungszeiten zu kennen.“
„Ja, ich hörte davon, dass du lange fort warst!“
„Mein Dad sprach von irgendwelchen Ergebnissen, die wir für die Kontrolleure brauchen.“ Darrell grinste über diesen Seitenhieb, überwand seine Unsicherheit und verschränkte gelassen die Arme vor der Brust. Lucy beobachtete, wie die Muskeln seiner Arme unter seinem khakifarbenen Longsleeve hervortraten, und er eine lässige Haltung annahm. Das, was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Zu gut, um einen klaren Kopf zu bewahren. Den brauchte sie im Umgang mit Darrell dringend. Er ertappte sie bei ihrer Musterung und fragte: „Soll ich dich zu Hause absetzen?“
Bevor Lucy darauf auch nur selbst antworten konnte, hörte sie Goerge sagen. „Nicht nötig, das mache ich schon.“ Goerge stand auf und trat Darrell entgegen. In seinem weißen Kittel, den er immer trug und worin er furchtbar albern aussah, und seiner geringen Körpergröße sah er keinesfalls aus, als könne er es mit Darrell aufnehmen. Doch Lucy ärgerte viel mehr die Tatsache, dass er glaubte ihr diese Entscheidung abnehmen zu können.
„Ich denke, die Dame sollte ihre Entscheidung selber fällen, oder meinst du nicht?“ Darrell schien Georges Gehabe wenig zu beeindrucken.
Fassungslos schaute Lucy den beiden Männern bei dem stillen Blickduell zu, wo der Gewinner darüber bestimmte, wer sie heimfahren durfte. Die hatten wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Kopfschüttelnd stellte sie sich auf den schmerzenden Fuß und machte sich humpelnd daran den Raum zu verlassen. „Lucy?“, fragte Goerge irritiert.
„Ihr habt sie nicht mehr alle“, sagte sie nur, zeigte ihnen einen Vogel und sah Darrells breites Grinsen.
„In vielerlei Hinsicht hat sich nichts verändert, oder?“
„Offenbar nicht!“, schnappte sie und rümpfte die Nase.
„Was hast du nun vor?“ Goerge zappelte neben ihr her.
„Na was schon? Ich fahre nach Hause! Was sonst?“ Mit ätzenden Lauten arbeitete sie sich durch die Praxis.
„Das ist doch unvernünftig, Lucy.“
„Unvernünftig wäre nur, euch beiden weiter bei diesem Revierverhalten zuzuschauen. Ich habe Hunger und möchte jetzt nach Hause. Lass also gut sein, Goerge. Ich komme sehr gut alleine klar.“
Während Goerge von ihrer Bissigkeit zurückwich, lief Darrell geschmeidig hinter ihr her. Die Tür zur Praxis fiel vor Goerges Nase ins Schloss und sie beide humpelten ins Freie. Es war bereits dunkel und Lucy ertappte auch den Übeltäter, der ihr den Unfall eingebrockt hatte. Der platte, alte Fußball von Mozzi, der alten Jagdhündin ihres Vaters, lag vor der Tür, auf dem Lucy wohl ausgerutscht war.
„Soll ich wenigstens deiner Familie Bescheid sagen? Deinem Dad oder so?“, bot Darrell an.
„Du willst echt bei meinem Dad vorbeifahren?“ Lucy zog die Braue hoch. „Du weißt schon, dass er immer einen Schlagstock mit sich herumträgt?“
Er verzog schmerzlich das Gesicht. „So schlimm? Ist er etwa immer noch sauer auf mich?“
„Sauer?“ Sie spie das Wort mit solch einer Ironie aus, dass er blass wurde. „Du hast beide seiner Töchter geküsst und mindestens einer davon das Herz gebrochen. Ich würde sagen, du bist Staatsfeind Nummer eins. Obwohl …“ Lucy blieb stehen und überlegte einen Moment. „Wobei dich Jake höchstwahrscheinlich vom Thron gestoßen hat. Immerhin ist er der Jumper und hat Emily in Dads Augen quasi entführt.“ Sie blickte in sein Gesicht, das ernst wirkte. Sie wusste nicht genau, warum sie es gesagt hatte. Wollte sie ihn verletzen, oder sich nur selbst daran erinnern, wie sehr er sie verletzt hatte?
„Ganz so war es allerdings nicht“, erinnerte er sie dann.
„Stimmt, aber das ist die ungefähre Zusammenfassung meines Dads“, entgegnete Lucy achselzuckend.
„Der Polizist von Beruf ist, und ständig einen Schlagstock mit sich herumträgt. Ich verstehe. Dann gehe ich ihm wohl mal lieber aus dem Weg, was?“
Sie zwinkerte ihm gutgelaunt zu. „Wenn du dir nicht ausversehen einen Gefängnisaufenthalt einhandeln möchtest, wäre das ratsam.“ Sie kamen an ihrem Auto an und Lucy hielt bereits den Schlüssel in ihren Händen, ehe sie verunsichert zu ihm sah. „Ich war übrigens auf dem Weg zu eurem Hof“, gab sie leise zu.
„Ach ja? Warum?“, fragte er ehrlich interessiert und seine Miene hellte sich auf.
„Es ging um diese Werte der Rinder … Sag deinem Dad, es sei alles im Normbereich.“ Sie überreichte ihm einen Umschlag, den sie für das Amt brauchten, und zuckte mit den Achseln.
„Wird erledigt! Dann bis bald Lucy“, verabschiedete er sich und wandte ihr bereits seinen Rücken zu, während sie die Tür ihres Geländewagens öffnete und innehielt.
Nervös knetete sie ihre Hände und fügte eilig hinzu: „Ich hätte auch anrufen können.“
„Was?“ Darrell runzelte die Stirn.
„Deinen Vater, um ihm das Ergebnis zu sagen. Ich wollte aber bei euch vorbeifahren, um …“ Sie seufzte und sah kurzzeitig in die Ferne, wo der Mond am Himmel stand.
„Um?“, hakte er nach und kam erneut näher. Sein Blick war eine Spur hoffnungsvoll und vielleicht wollte sie ehrlich sein, um sein Lächeln noch einmal zu sehen, statt des schuldbewussten und geprügelten Blickes, der bei ihm seit seiner Rückkehr häufiger zu sehen war.
„Ich wollte sichergehen, dass du noch da bist. Ich … weiß selbst nicht genau, warum, aber … ich bin, unruhig und nervös, weil ich nur daran denken kann, dass du einfach wieder verschwindest.“ Todesmutig sah sie in seine Augen und gewährte ihm dabei einen kleinen Einblick auf ihre Seele.
„Ich bleibe erst mal eine Weile, Lucy“, versicherte er ihr und näherte sich ihr nicht, als hätte er Angst sie zu verschrecken. Ihre Blicke verhakten sich ineinander und Lucy schüttelte lächelnd den Kopf.
„Was, wenn du wieder genug von Jarbor Hydes hast?“
„Falls ich gehe, dann verabschiede ich mich von dir. In Ordnung?“
Sie nickte und schluckte mühsam einen Kloß im Hals hinunter. Bei dem Wort „falls“ durchflutete Erleichterung sie. „Versprochen?“
„Versprochen!“
Diese Texte sind Auszüge aus bereits veröffentlichten Büchern und entstammen der Feder von Kathrin Lichters.
www.facebook.com/kathrin.lichters
www.facebook.com/livkeenautorin