Prolog
Das Gefühl, das mit jedem Herzschlag durch seine Adern raste, war unbeschreiblich. Adrenalin. Er wusste genau, was zu dieser Zeit in seinem Körper los war. Die Ausschüttung des Hormons führte dazu, dass das Blutvolumen anstieg, die Herzfrequenz sich steigerte und der Blutdruck sich erhöhte. Das Empfinden war wie eine Sucht für ihn geworden, und es war kein Geheimnis, dass er dem Hunger nach Ekstase erlegen war. Er war süchtig nach Gefahr. Es gab für ihn nur wenige Pausen zwischen einem solchen Rausch und dem nächsten Kick. Mittlerweile gierte er regelrecht nach diesem Sturm der Gefühle, nach dem Erfolg, danach, Rennen zu gewinnen. Er liebte den Drahtseilakt seines Alltags und wollte so viel davon mitnehmen, wie er nur konnte. Jake O’Reiley war ein Mann, der Autorennen nicht einfach nur fuhr, er gewann sie, weil er immer zu hundert Prozent bereit war, sein Leben zu riskieren. Er war es gewohnt, ein Leben auf der Überholspur zu führen. Es gab keinen Grund, seine Zeit mit Belanglosigkeiten zu verschwenden, denn ihm würde nicht unendlich viel davon zur Verfügung stehen.
Kapitel 1
Die Dunkelheit umgab Emily wie ein dichter Trauerschleier und bewahrte sie vor den Dingen, die sie bei Licht sah: ein Stuhl, der leer blieb; eine Zahnbürste, die seit ewiger Zeit unbenutzt in einem Becher im Badezimmer stand; die Zeitung eines längst vergangenen Tages, der ihre Zukunft völlig auf den Kopf gestellt hatte; eine Bettseite, die kalt und unberührt blieb. Bilder, die aus einem anderen Leben zu stammen schienen. Es war schwer, diese Gegenstände bei Tageslicht zu ignorieren, doch dann wischten der Alltag und die anstehenden Pflichten den Kummer darüber fort, jedoch nur vorübergehend. Am Abend, wenn sie keine Ausrede mehr hatte, noch nicht nach Hause gehen zu müssen, erblickte sie im gedämpften Licht der Straßenlaterne, das durchs große Wohnzimmerfenster fiel, ihr trostloses Dasein. Ihr Leben ohne ihn. Im sanften Schein der Wohnzimmerlampe wog ihre Trauer so viel mehr. Sie war eine Last auf ihren Schultern, die sie niederdrückte und ihr kaum Luft zum Atmen ließ. Die Dunkelheit hingegen nahm ihr nicht nur die Sicht, sondern betäubte auch ihren Körper, der all die Emotionen, die wie eine Welle auf sie zurollten, nicht ertrug. Das Atmen fiel ihr dann leichter – so viel leichter. So war es auch jetzt. Sie wusste, eines Tages musste sie sich den Gefühlen und dem Leben ohne Collin stellen. Sie konnte nur hoffen, dass die Woge sie dann nicht fortspülen würde.
Die Ruhe war in dem Moment vorbei, als es lautstark an der Tür klingelte und ein Geräusch im Schlüsselloch ertönte. Emily erstarrte und machte sich so klein wie möglich, als würde sie das vor den Blicken derer schützen, die sich gerade Zutritt zu ihrem Rückzugsort verschafften. Ein Seufzen entwich ihr, und sie schloss die Augen, als könnte sie dadurch die Welt außerhalb ihres Zuhauses weiterhin von sich fernhalten.
Die Tür wurde geöffnet, und sie lauschte dem Klacken der Absätze ihrer Schwester Mary, die sicher wieder ein Paar ihrer selbst kreierten Schuhe anhatte. Der dumpfe Laut schwerer Boots gehörte zu ihrer anderen Schwester, Lucie, die grundsätzlich nur praktisches Schuhwerk trug, weil es ihre Arbeit als Tierärztin um einiges erleichterte. Dann war da noch eine weitere Person, die nicht anhand ihrer Schritte zu erkennen war, sondern aufgrund der hektisch geflüsterten Worte und des Klirrens, mit dem der Schlüssel auf dem Parkettboden landete. Das folgende Kichern gehörte zu ihrem Bruder Luke, und Emily stöhnte auf, als jemand das Licht im Wohnzimmer anmachte.
„Emily?“, rief Mary laut, und ein großer Schatten schob sich über sie. Sie öffnete ein Auge und sah in die grinsenden Gesichter ihrer Geschwister. Luke hielt eine Flasche Pernot hoch, während Lucies Haarmähne, die immer so wirkte, als hätte sie in eine Steckdose gefasst, Mary an der Nase kitzelte und sie zum Niesen brachte.
„Hey, hast du etwa unseren Vorweihnachtsabend vergessen?“, fragte Lucie entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Habt ihr meine Nachricht etwa nicht bekommen?“, antwortete Emily mit einer Gegenfrage.
Mary hob eine Augenbraue. „Welche? Die, in der stand, dass du nicht kommen kannst, weil du arbeiten musst? Oder die, die du Luke geschickt hast, in der du was von Migräne faselst?“ Emily biss sich auf die Lippe – ertappt. Normalerweise war sie besser darin, ihre Geschwister zu täuschen – sie hatte in den letzten fünfundzwanzig Jahren schließlich reichlich Zeit zum Üben gehabt. Doch sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie nachlässig geworden war. Ihre Familie allerdings nicht – sie war wie immer penetrant und aufdringlich. Sie gab ihr einfach keinen Raum für sich selbst, doch ein Teil von Emily wusste, wie wichtig das war. Denn ohne ihre Familie wäre sie längst von der Welle, die sie kurz nach Collins Tod erfasst hatte, ins Meer gerissen worden. Einzig ihre Schwestern und Luke hatten ihr eine Rettungsleine zugeworfen.
„Wir dachten, wenn du nicht zu uns ins Caf#é# kommen kannst, kommen wir eben zu dir“, fügte Luke lächelnd hinzu, während er sich neben dem Sofa auf den Boden sinken ließ.
Emily stöhnte. Ihre Geschwister waren allesamt Nervensägen und akzeptierten ein Nein schlichtweg nicht. Niemals. „Ich habe abgesagt, weil ich keine Zeit habe.“
„Weil du so schwer damit beschäftigt bist, in die Dunkelheit zu starren? Wie lange machst du das schon?“ Luke sah besorgt zu ihr hoch.
Sie legte den Arm über ihre Augen, um sie auszuschließen, und knurrte: „Haut ab! Lasst mich einfach in Ruhe.“
„Wie lange willst du noch die abgedrehte Witwe spielen? Collin ist immerhin schon seit fast zwei Jahren tot.“ Ihre Schwester Lucie war die Direkteste von ihnen und die, der jegliche Geduld fürs Feingefühl fehlte. Sie hörte, wie Mary nach Luft schnappte und Luke ein schockiertes: „Lucie!“ entwich. Sie brauchte sich nicht die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen, um zu sehen, dass ihre Geschwister sich mit wilden Gesten über ihren Kopf hinweg zu verständigen versuchten. Zu dieser Jahreszeit war Collins Abwesenheit ganz besonders schlimm für Emily, aber sie hatte auch im restlichen Jahr ihren eigenen Weg, ihre Träume und Wünsche, aus den Augen verloren. Das musste sie zugeben.
„Was denn? Jetzt tut doch nicht so entsetzt! Ich sage nur das, was wir alle und das ganze Dorf längst denken. Sie führt sich wie eine verrückte …“ Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester hatte Mary eine besondere Fähigkeit: Sie konnte Menschen allein mit einem frostigen Blick aus ihren eisblauen Augen zum Schweigen bringen. So wie offenbar gerade auch Lucie, die abrupt zu sprechen aufhörte. Es war Luke, der nun seine Schwestern fortscheuchte und sich auf den Rand des Sofas zu Emily quetschte. Sanft, wie es seine Art war, nahm er ihre Hand und hob den Arm von ihrem Gesicht. Sie blickte in seine Augen, die sie mitfühlend ansahen. Ihr Bruder war ein schöner Mensch, und es wurde scherzhaft gemunkelt, er wäre das hübscheste Kind der Carhills. Sein Haar war dunkel und wurde durch Gel modisch in Form gebracht. Seine blauen Augen waren nicht so hell wie Marys und Lucys, aber sie wurden von unzähligen dunklen Wimpern umrahmt, sodass sie zu leuchten schienen. Emily liebte sein Lächeln, das seine geraden, weißen Zähne hervorblitzen ließ. Der mitleidige Ausdruck in seinen Augen wich einem besorgten.
„Emily, du weißt, du bist meine Lieblingsschwester …“
„Das sagst du zu jeder von uns, Luke. Diese Masche haben wir längst durchschaut!“, entgegnete sie barsch.
Er überhörte ihren Einwurf großzügig und fuhr fort: „Auch wenn Lucie sich vielleicht taktlos ausgedrückt hat …“
Emily unterbrach ihn bissig. „Tut sie das nicht immer?“ Sie bemerkte den trotzigen Ton in ihrer Stimme, der sie schwer an ein Kleinkind erinnerte, das nicht mitspielen durfte. Davon ließ er sich jedoch keineswegs beeindrucken.
„… hat sie recht! Du machst uns Angst. Ich weiß, Collin fehlt dir. Ich weiß das, weil ich ihn ebenfalls schrecklich vermisse, und ich war nur sein bester Freund. Dennoch, Liebling, kann es nicht so weitergehen. Er würde mich verprügeln, wenn ich dich so weitermachen ließe …“
„Wie genau?“
„Na so eben!“ Er gestikulierte wild mit den Armen und sah dabei tuntiger aus, als er selbst ertragen würde. Wenigstens brachte er Emily damit zum Lachen. „Und er hatte einen harten rechten Haken.“ Er grinste, allerdings wurde sein Blick plötzlich leer, als würde er sich an längst vergessene Zeiten erinnern. Dann besann er sich jedoch und sagte sanft, wenn auch bestimmt: „Er will nicht, dass du dich hier vergräbst.“
Seine Sanftheit nervte sie auf einmal entsetzlich, als wäre sie ein trotziges Kind, das mit klaren Worten nicht fertig wurde. Deswegen rief sie: „Du weißt nicht, was er will, weil er tot ist! Er ist nicht hier, um dich zu verprügeln oder dich anzuspornen, dich um mich zu kümmern, weil er verdammt noch mal tot ist. Keiner weiß, wie ich mich fühle, gerade jetzt …“
Emilys Direktheit ließ Luke zusammenzucken und sich aufrichten. „Ja, er ist tot, und du hast mit allem recht. Ich bin in erster Linie hier, weil du meine Schwester bist und ich dich liebe. Ich will nicht, dass du uns ausschließt, weil du aus diesem Loch, in dem du um ihn trauerst, nicht mehr alleine rauskommst. Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass ich nicht weiß, wie du dich fühlst. Er fehlt mir entsetzlich …“
Es waren nicht seine Worte, die Schuldgefühle in Emily weckten. Es war seine Miene, die sie umstimmte. Sie wusste, dass sie unfair war. Luke und Collin waren seit der ersten Klasse eng befreundet gewesen. Collin war als Kind der Schwächere von beiden, und dank seiner alkoholkranken Mutter hatte er in ihrem kleinen Ort keinen besonders guten Ruf gehabt, sodass Luke ihn vor ihren Mitschülern verteidigt und beschützt hatte. Später, nach Lukes Outing, hatte Collin die eine oder andere Auseinandersetzung für ihn ausgefochten, weil er damals im Gegensatz zu seinem Freund die Kraft dazu besessen hatte. Er hatte immer zu Luke gestanden und so manche Gerüchte und Witzeleien über sich ergehen lassen müssen, weil man darüber tratschte, dass die beiden vielleicht sogar ein Paar waren. Das war ein Grund gewesen, warum Emily sich in ihn verliebt hatte. Das und die Tatsache, dass er auch irgendwann ihr bester Freund geworden war und fast schon zur Familie gehörte. Alles war so leicht mit ihm gewesen. So mühelos, wie atmen. Es war nur natürlich gewesen, dass sie nach ihrer Zeit am College und seiner Ausbildung zum Polizisten geheiratet hatten. Getreu dem Motto „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich noch was Besseres findet“ hatten sie sich umgesehen und festgestellt, dass nur sie beide zueinander passten. Collin hatte sich immer als waschechter „Carhill“ gefühlt und deswegen bei der Hochzeit Emilys Nachnamen angenommen, um seine problematischen Familienverhältnisse endlich ganz hinter sich zu lassen. Sie waren wie ein Mechanismus gewesen, der ohne den anderen nicht lief. Nun war Collin unwiederbringlich fort, und Emily war kaputt. Sie funktionierte nicht ohne ihn. Unter diesen Umständen gab es für sie keine Aussicht auf Besserung. Das wollte aber niemand außer ihr einsehen.
In dieser Situation war jedoch Diplomatie gefragt. Ihre Geschwister würden es niemals akzeptieren, dass sie sich weiter hängen ließ. Nun hatte sie also zwei Möglichkeiten: Sie konnte sich bockig verhalten und eine Intervention ihrer Familie herbeiführen … Sie hörte ihre Schwestern längst in der Küche heftig tuscheln. Oder – und es fiel ihr schwer, sich gänzlich auf dieses Oder einzulassen – sie würde sich aufraffen und den Abend über sich ergehen lassen. Sie entschied sich für Letzteres, stand auf, ging ins Bad und zog sich ein frisches Shirt an, auf dem „Peace not war“ stand.
Als sie in die Küche trat und ihre Geschwister bereits mit einem Glas Wein in der Hand dastehen sah, zwang sie sich zu einem Lächeln.
„Ich finde diese Einstellung sehr löblich.“ Mary deutete auf ihr T-Shirt. „Lucie war schon richtig zickig und drauf und dran, Dads Schrotflinte raufzuholen.“
„Warum ist eine Frau immer gleich zickig, wenn sie eine Meinung hat und diese auch vertritt?“, herrschte Lucie ihre Zwillingsschwester an.
Mary rollte demonstrativ mit den Augen. „Na, weil du immer sofort so schnippisch wirst. Es geht weniger um die Botschaft, als um die Art, wie du sie rüberbringst“, erklärte Mary gelassen.
„Meine Art? Schnippisch? Ich bin eben kein ewig lächelnder Engel wie du. Na und? Ich finde, ich darf durchaus meine depressive Schwester daran erinnern, dass nicht sie gestorben ist, sondern …“ Betreten starrten alle zu Emily.
„Mein Ehemann Collin“, ergänzte sie daraufhin trocken, und es entstand eine bedrückte Stille. „Wenn du jemals einen Ehemann haben solltest, tu dir selbst einen Gefallen und erzähl ihm besser nicht, was du mir geraten hast, Lucie.“
Plötzlich brach Luke in hysterisches Gelächter aus und reichte Emily ein Weinglas. „Du meinst, dass du bald wieder in den Sattel steigen sollst?“ Er deutete Reitbewegungen an, und Emily lächelte.
„Diese Pferdemetaphern machen mich noch wahnsinnig!“, kreischte Mary und starrte sie mit offenem Mund an. „Du hast ihr geraten, bald wieder zu vögeln? Kurz nach Collins Tod?“
Lucie sah betont gleichmütig drein, während Emily den Kopf schüttelte. „Auf seiner Beerdigung!“
„Nein!“ Alle sahen abwechselnd zwischen Lucie und ihr hin und her.
„Das glaube ich nicht!“
Lucie schnaubte und verschüttete dabei etwas von ihrem Wein. „Das ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen und war alles ganz anders.“
„Ich kann mich nicht an irgendeinen Kontext erinnern …“, sagte Emily. Nun war es um ihre Geschwister geschehen. Sie kreischten vor Vergnügen, und Emily wechselte einen Blick mit Lucie, die ihr unbemerkt zuzwinkerte. Sie mochte die pragmatischste Schwester von ihnen sein, aber niemand kannte Emily besser. Sie ertrug die Witze auf ihre Kosten, damit Emily sie von ihrer gequälten Seele ablenken und eine Intervention abwenden konnte.
„Außerdem schadet ein ausgeglichener Hormonhaushalt niemandem. Wer sagt denn, dass du den Kerl, den du bumst, gleich heiraten musst?“
„Du wirst George also nicht heiraten?“ Luke fasste sich ans Herz. „Das erleichtert mich zutiefst, Schwesterherz. Dieser Mann hat weder Geschmack, noch könnte ich ihn öfter als einen Tag im Jahr ertragen.“
„Bist du verrückt geworden? Wenn es nach mir geht, gehe ich diesen Bund nie ein. Die Menschen sind nicht für die Monogamie geschaffen. Die Kerle wollen nur ihre Gene möglichst weit und flächendeckend streuen und ein Frauchen haben, das sich anschließend um ihre Bälger kümmert“, tat Lucie ihre Meinung kund.
„Nicht alle Kerle sind so!“, erinnerte Mary sie leise und begegnete ihrem scharfen Blick.
„Ehrlich nicht? Gut, Dad ist die Ausnahme.“ Sie schwiegen betreten. Marys und Lucies Vorgeschichte mit Männern war kein Thema, bei dem sie mit einer oder zwei Flaschen Pernot auskamen.
Eine Weile später saßen sie im Wohnzimmer auf dem Boden. Zwischen ihnen türmten sich die Geschenke für ihren Vater, die alle in Geschenkpapier mit Schleifen verpackt wurden, drunter waren diverse Pizzakartons und Chinaimbiss-Schachteln verstreut. Der Pernot tat sein Übriges, und die Stimmung wurde heiter und ausgelassen. Emily genoss das Zusammensein mit ihrer Familie sogar.
„Was soll Dad denn damit anfangen?“ Lucie hob den Nasenhaartrimmer hoch und sah zweifelnd in die Runde. Ihre Wangen waren leicht gerötet und die Augen glasig vom Alkohol.
Mary riss das Paket an sich und meinte: „Dad ist ein alleinstehender Mann. Er hat niemanden, der ihm die Nasenhaare schneiden könnte. Ich bin es leid, mir diese Dinge anzusehen.“
„Echt jetzt? Er trägt einen Schurbart. Ist das nicht überflüssig?“
„Du hast wirklich eine seltsame Einstellung zu Männern.“
„Oder du zu Nasenhaaren.“ Lucie prustete los. Das saß und Mary verzog sich beleidigt in die Küche, um sich Wein-Nachschub zu holen. Emily wechselte einen Blick mit Luke, der tief seufzte.
So war das immer mit ihren ältesten Schwestern. Jedes Klischee über Zwillingsschwestern wurde bei Lucie und Mary gebrochen. Die besonders intensive Verbindung von Zwillingen, von der man im Allgemeinen sprach, traf bei ihnen nicht zu. Emily wusste nicht mal genau, wann sich das geändert hatte, denn es hatte mal eine Zeit gegeben, da waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten die üblichen „Hanni und Nanni“-Scherze mit ihnen getrieben, hatten dieselbe Frisur, dieselben Kleider getragen und eine Sprache miteinander gesprochen, die ein Außenstehender kaum verstand. Dann war es damit vorbei gewesen – von heute auf morgen.
Mary war die Modebewusste in der Familie und besaß ein Caf#é#, in dem sie schon ihre Ausbildung zur Konditorin gemacht hatte. Doch ihr hatte das Backen nicht sonderlich gelegen, und so hatte sie damals all ihr Gespartes investiert und der alten Mrs. Porter das Caf#é# abgekauft und einen moderneren Laden eröffnet, in dem Jung und Alt sich trafen. Nebenbei entwarf sie eine Schuhkollektion, die sie ebenfalls in ihrem Caf#é# verkaufte. Welch glückliche Fügung für jede Frau: ein Schuhladen, der auch Kuchen und Kaffee in großen Mengen zur Verfügung stellte. Leider gab es nur wenige gut verdienende Damen in ihrem Ort, und so begnügte Mary sich damit, Spaß an ihrem Hobby zu haben.
Lucie war das komplette Gegenteil ihrer Schwester. Sie lachte nicht so oft und hatte auf den ersten Blick keine weiche Seite wie Mary. Sie wirkte oft pragmatisch und rational, wobei ihre Geschwister es besser wussten. Lucie war auch sanft und gefühlvoll, nur hatte sie nach dem Fortgang ihrer Mutter deren Rolle übernommen und einiges mehr an Verantwortung getragen als jeder andere in der Familie. Sie hatte kaum Zeit für Teenager-Wutausbrüche gehabt, weil sie dafür sorgen musste, dass ihre Geschwister nicht in Schwierigkeiten gerieten. Bei ihrer Arbeit als Tierärztin blühte sie richtig auf. Sie konnte mit Tieren einfach besser umgehen als mit Menschen, das glaubte zumindest ihr Vater.
„Wehe, du lässt mir nicht noch was in der Weinflasche drin!“, rief Lucie ihrer Schwester erbost hinterher und eilte ebenfalls in die Küche, wo nun ein lautes Klirren ertönte, dem ein „Ups!“ folgte.
Emily stöhnte, kicherte dann jedoch und musste sich eingestehen, dass ihre Schwestern ein nerviger, aber liebevoller Haufen waren. Sie hatte in den wenigen Stunden des heutigen Abends mehr gelacht als in der gesamten letzten Woche. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hielt ihr Weinglas in der Hand, während sie aus dem Fenster blickte und dem Schneetreiben zusah. Der Schnee lag schon fünf Zentimeter hoch; wenn das so weiterging, standen ihre Chancen für weiße Weihnachten gut. Sie fröstelte leicht, als sie die Straße entlang schaute und einen mit Tüten bepackten Mann über die Kreuzung gehen sah. Ihr Herz setzte einen Moment aus, doch im nächsten Augenblick erkannte sie den Umriss ihres Vaters. Wie oft hatte sie Collin dabei zugesehen, wie er zu Fuß von seiner Schicht an der Ecke von Marys Caf#é# vorbei zu ihrer Wohnung zurückkehrte? Wie oft hatte er dort unten gestanden und ihr zugewunken? Collin kann es nicht sein, erinnerte sie sich. Er ist tot! Ja, das war er, und doch gab es nichts, was Emily sich mehr wünschte, als diesen unbedeutenden und oftmals nicht beachteten Moment seiner Heimkehr erneut zu erleben. Sie spürte die große Hand ihres Bruders, die sich auf ihre Schulter legte und sie an sich zog.
„Er ist immer noch hier bei uns – davon bin ich überzeugt“, murmelte er, und Emily war versucht, etwas Wütendes zu erwidern. Sie hatte seit Collins überraschendem Tod vor zwei Jahren zu oft diese sinnlosen Trostsprüche ertragen, die ihr leider gar nicht halfen. Es tat weh, ohne ihn zu sein, und jeder Versuch, das Ausmaß seines Todes abzumildern, kam ihr unglaublich falsch vor. Kurz bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam, erkannte sie jedoch, das sein Satz weniger darauf abzielte, sie zu trösten als vielmehr ihn selbst. Luke hatte seinen besten Freund, seinen Bruder verloren und litt sehr darunter. Emily ergriff seinen muskulösen Arm, den er um sie geschlungen hatte, und streichelte ihn.
„Du solltest dir einen neuen Freund suchen, weißt du?“, murmelte sie, und Luke lachte laut auf. „Ich meine es ernst, Luke. Nicht nur ich sitze in einem Loch und komme kaum mehr heraus. Du leidest unter seinem Tod, genauso wie ich. Nur, dass du dafür keineswegs wieder in den Sattel steigen musst …“ Sie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und spürte das Glucksen ihres Bruders an ihrem Rücken. „Du musst dafür etwas viel Schwierigeres tun. Du musst einen anderen Mann deinen Freund sein lassen – so wie Collin damals vor all den Jahren.“
Luke atmete spürbar aus. „Collin war eine verlorene Seele – er hat mich mehr gebraucht als ich ihn. Meistens jedenfalls!“
„Dort draußen gibt es jemanden, der allein ist und deine Hand brauchen kann. Du musst nur die Augen aufmachen. Sieh dich doch mal um, wer ist denn in dieser Welt nicht verloren?“
Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Es gibt wenige Männer, die eine Schwuchtel zum Freund haben wollen.“
„Irgendwo gibt es ihn …“
„Und wo ist der eine Mann für dich?“ Luke wagte diesen Satz kaum laut auszusprechen, deswegen wisperte er ihn nur, damit die anderen es nicht hörten.
Emily sah wieder nachdenklich aus dem Fenster. „Ich habe mein Glück bereits gefunden, Luke. Mein Liebesbarometer ist voll. Ich meine, ich hatte Collin. Jetzt bist du dran. Erzähl mal, wie heißt dein neuer Freund noch gleich? Steve?“
„Der ist doch schon längst Schnee von gestern. Du kriegst auch gar nix mehr mit, oder?“
Emily knuffte ihn mit dem Ellenbogen. „War das nicht der, der Dad nur mit einer Schürze bekleidet die Tür geöffnet hat, als du die beiden bekannt machen wolltest?“
„Genau genommen hat Dad sich selbst eingeladen, aber ja, danach war es irgendwie vorbei.“ Luke grinste wehmütig. „Jetzt habe ich da diesen Klienten, bei dem es funkt. Er heißt Bruce, ist Frauenarzt und wurde wegen sexueller Belästigung verklagt, dabei ist er eindeutig nicht an Muschis interessiert.“ Luke hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. „Dieses Wort … Ich muss mich regelmäßig beherrschen, um nicht zu lachen.“
„Wo lernt er diese Typen nur immer wieder kennen?“, fragte Mary, die hinter ihnen erschien. „Ich dachte eigentlich, die Welt sei voll mit Heteromännern, und die Kerle vom anderen Ufer seien vom Aussterben bedroht. Doch mein Bruder schleppt in einem Monat mehr Typen ab als ich im ganzen Jahr.“
„Du musst dir einfach jemanden suchen, der deine Bedürfnisse befriedigt, wenn du verstehst, was ich meine. Dann bist du die glücklichste Frau der Welt.“ Lucie wackelte grinsend mit den Augenbrauen.
Mary pustete ihren Pony aus der Stirn und winkte ab. „Du meinst so einen Kerl wie George? No way!“
„Ihr hackt alle auf George rum, aber er erfüllt seinen Zweck für mich, so wie ich für ihn.“
„Bist du da sicher?“ Luke verzog zweifelnd das Gesicht. „Ich glaube, diese zwanglosen Sachen werden irgendwann für einen von beiden ernst.“
Gleichgültig zuckte Lucie mit den Achseln. „Für uns ist das so okay. Er kratzt mich, wenn es mich juckt und gut ist.“
„Ich weiß nicht, da bleibe ich lieber bei meinem Magic Toy!“, eröffnete Mary ihnen lachend. Die anderen prusteten ebenfalls los. „Der macht keinen Stress und muss nicht erst am Ego gekrault werden, ehe es losgehen kann. Bei ihm gibt es keine bösen Überraschungen - außer wenn die Batterie streikt. Doch da hat Mr. Jenkins vom Elektroladen Gott sei Dank ein großes Nachschubfach.“
„Mr. Jenkins, der Arme … ob er weiß, wofür du die ganzen Batterien brauchst?“ Lucie nahm im Sessel Platz, in dem Emilys Kater Mr. Scrooge immer schlief, wenn er nicht gerade auf dem Dachboden Mäuse fing, und zwinkerte ihnen zu.
„Wenn er das wüsste, wäre er längst einem Herzstillstand erlegen. Ich fürchte immer den Moment, wenn er ins Lager geht und erst Minuten später zurückkommt. Keine Ahnung, wie oft ich schon nach ihm schauen wollte und das Handy griffbereit in der Hand hatte, um den Krankenwagen zu rufen.“
„Besser du notierst dir die Nummer des Bestatters!“, fügte Lucie trocken hinzu, und Mary stieß erneut ein entsetztes „Lucie!“ aus. Verständnislos sah diese sie an.
Emily kicherte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. „Ich schließe daraus Folgendes: Entweder sind die Heteros vom Aussterben bedroht, oder die Heteros werden alle schwul, weil sie von diesem Dating-Wahnsinn frustriert sind.“
„Oder …“ Lucie schlug die Beine übereinander und lehnte den Kopf gemütlich an die Sessellehne. „… wir sind zu wählerisch. Wenn ich euch nur an die Nasenhaardebatte erinnern darf.“ Mary kreischte und stürzte sich auf ihre Schwester, während alle in lautes Gelächter ausbrachen.
„Habt ihr gesehen, was für riesige Umzugswagen da anreisen? Wer bitte hat so viel Zeug?“, fragte Emily und deutete aus dem anderen Fenster auf die Straße hinunter, wo mehrere Laster mit der Aufschrift „For rent“ entlangfuhren.
„Die Frage lautet eher, wer zieht an Heiligabend um?“ Luke runzelte die Stirn.
„Der Grinch?!“, kam die postwendende Antwort von Lucie, und Mary bewarf sie mit Geschenkpapierresten.
„Habt ihr es etwa noch nicht gehört?“ Mary verrenkte ihren Hals, um einen Blick auf die Wagen zu erhaschen, und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Halleberry Castle wurde verkauft. Das wird er wohl sein, der neue Besitzer.“
„Aha, dieses alte Ding wollte jemand haben?“
„Du kriegst aber auch gar nix mit Lucie! Die renovieren ‚das Ding‘ schon seit Wochen!“
Luke schüttelte sich kurz. „War da nicht was mit ein paar geheimnisvollen Morden oder so? Es soll da spuken, hieß es früher immer.“
„Das hat man euch als Kinder erzählt, damit ihr euch nicht dorthin schleicht, du Weichflöte“, rügte Lucie ihren Bruder. „Aber mich würde auch interessieren, wer das Geld hat, dieses riesige Teil zu kaufen“, gab sie dann zu.
„Hallberry Castle ist wunderschön mit dem alten Gemäuer und den großen Räumen. Ich würde alles tun, um dort eine Führung zu bekommen, wenn es wieder vorzeigbar ist.“ Emilys Neugierde war geweckt. Ihre Vorliebe für antike Möbelstücke und Kunst erstreckte sich auch auf historische Liebesromane, in denen Frauen von wohlhabenden Männern erobert wurden, obwohl die Gesellschaft es unmöglich machte.
„Nur eine Verrückte oder eine Künstlerin sieht in diesem Schandfleck was Wunderschönes.“ Luke schüttelte amüsiert den Kopf. Emily war schon früher unerschrockener als die meisten gewesen und hatte sich nicht selten auf dem Anwesen herumgetrieben, das einmal einem Grafen gehört hatte. Als sie älter wurde, pachtete sie sogar einen Hügel mit einem Pavillon auf dem Grundstück, um dort zu malen. Luke hätte sich höchstwahrscheinlich in die Hosen gemacht, wenn er alleine an diesem Ort hätte bleiben müssen.
„Den neuesten Gerüchten nach soll es dieser Formel-1-Rennfahrer gekauft haben“, plauderte Mary aus.
„Na klar, unsere Klatschtante wieder!“ Lucie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Was? Ein Rennfahrer?“ Nun wandten sich ihr zwei neugierige Gesichter zu.
„Ich höre nun mal viel von den Dorfbewohnern. Es soll dieser Motorsport-Star sein. Er macht doch immer Schlagzeilen mit seinen zweifelhaften Vergnügungen. Wie heißt er noch gleich? Erst neulich habe ich was über ihn gelesen.“
„Erzähl keinen Mist“, entfuhr es Luke, und ihm fielen vor Euphorie beinahe die Augen aus dem Kopf. „Du meinst doch nicht etwa Jake O’Reiley, oder?“
„Ja, das hat die alte Mrs. Strottle heute Morgen gesagt.“
Emily runzelte die Stirn. „Du schaust dir Autorennen an?“, fragte sie ihren Bruder irritiert.
„Na ja, ich nicht, aber …“
„Collin“, beendete Emily den Satz. Irgendwie war er tatsächlich allgegenwärtig.
Mary grinste breit. „Du sagst den Namen so, als sei er verdammt heiß …“
„Wie spricht man denn einen Namen aus, als sei er sexy?“ Lucie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas und wartete gespannt auf die Antwort, um sich höchstwahrscheinlich danach darüber lustig zu machen.
„Na, so eben … Jake O’Reiley“, äffte Mary Luke nach.
Bedauern lag in seiner Stimme. „Er ist heiß, absolut, aber leider, leider fischt er nicht in meinen Gewässern, soweit man weiß, was also gar nichts heißt.“
„Wenn er wirklich Halleberry Castle gekauft hat, dann solltest du lieber ganz sichergehen“, riet Mary ihm lachend und deutete erneut Reitbewegungen an.
Kapitel 2
„Du bist ein grusseliger Autofahrer, Jake O’Reiley. Wie hast du dich in der Welt bis jetzt nur zurechtgefunden? Kannst du mir das sagen?“, erklang eine reichlich niedergeschlagene männliche Stimme durch die Freisprechanlage des Autos.
Jake trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. „Mann, ich habe mich nur verfahren … ich bin hier in der totalen Pampa gelandet. Außerdem bin ich der verdammt beste Rennfahrer der Welt – schon vergessen?“
„Solange du bloß im Kreis fahren musst, mag das so sein.“ Höhnisches Gelächter hallte durchs Auto. Jake konnte nicht anders, als zu grinsen. Es war gut, seinen Kumpel lachen zu hören, das tat er in letzter Zeit viel zu selten. Da überstand sein Ego auch den einen oder anderen Witz auf seine Kosten. Wie soll ich dich denn besser leiten können als ein Navi?“
„Du hast mich schließlich in diese verdammte Einöde geschickt! Also hilf mir!“, befahl Jake lachend.
Sein Freund Darrell räusperte sich vernehmlich. „Diese Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Wer sich eine Stripperin bestellt, die sich als Typ entpuppt, muss nun mal mit Reportern der üblen Sorte rechnen.“
Jake schnaubte und ereiferte sich: „Ich habe dieses Mädchen … äh … den Kerl nicht geordert, Darrell. Ich war nicht mal auf der verdammten Party, sondern hab im Schlafzimmer gepennt. Wie oft soll ich das noch sagen?“
„Es war deine Party, mein Freund. Da gibt’s nix dran zu rütteln. Lass es einfach ein paar Wochen ruhiger angehen, dann ist Gras über die Sache gewachsen. Du wirst schon sehen. Außerdem brauchtest du doch eine weitere Geldanlage, und so hast du gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“
Jake legte die Stirn aufs Lenkrad und knurrte: „Falls ich nicht in meinem Auto festfriere, weil ich den Weg nicht finde.“
„Was siehst du denn gerade vor dir?“
Jake sah aus dem Fenster und sagte hoffnungslos: „Nichts! Absolut nichts. Obwohl, warte: Da ist ein Schaf, das hätte ich fast übersehen. Es hat sich im Schnee versteckt. Ach sieh mal, sogar eine ganze Herde hat sich da getarnt. Meinst du, ich soll die mal fragen, wo es langgeht?“ Unterdrücktes Lachen ertönte erneut aus den Lautsprechern seiner Freisprechanlage, und Jake schnaubte. „Wie soll man sich bei diesen kitschigen Straßennamen auch nicht verfransen? Winterblossem Road? Im Ernst jetzt? Wo hast du mich hier nur hingebracht, Darrell?“
Sein Gesprächspartner zögerte, ehe er antwortete: „Wenn du in London geblieben wärst, hättest du dich nur gleich wieder ins nächste Abenteuer gestürzt – ich kenn dich doch. So bist du wenigstens weit entfernt von jeglichen Kameras. Jarbor Hydes ist der idyllischste Ort, den ich kenne.“
Jake gluckste abfällig. „Das, was ich bis jetzt davon gesehen habe, waren Wiesen voller Schnee und Viecher. Viele Viecher! Es ist arschkalt hier, Darell. Was hast du mir nur angetan?!“ Er lachte kurz auf, als Zeichen dafür, dass er es nicht ernst meinte.
Darrell holte tief Luft. „Du musst es morgen früh sehen, sobald die Sonne aufgeht. Ich weiß, du bekommst zu so unchristlichen Zeiten deinen Hintern nur selten aus dem Bett, aber das ist die goldene Stunde in Jarbor Hydes. Es gibt auf der gesamten Welt keinen friedvolleren Ort, und ich war mit dir schon auf der ganzen Welt, wie du weißt. Außerdem sind die Menschen, wenn sie dich erst mal in ihr Herz geschlossen haben, wahre Freunde.“
„Wie du weißt, will ich weder Freundschaften schließen, noch zwischenmenschliche Beziehungen pflegen.“ Jake hörte ein Klirren im Hintergrund und wie jemand einen tiefen Schluck nahm. Darrell ertränkte seinen eigenen Kummer wohl gerade im Alkohol. „Warum bist du dann nicht mit mir hergekommen, wenn es keinen schöneren Platz auf der ganzen Welt gibt?“
Darrell zögerte erneut. „Es gab gewisse Umstände, weswegen ich damals fortgegangen bin … bislang fehlte mir einfach der Mut, zurückzukehren. Wer weiß, vielleicht komme ich dich verrückten Kauz mal besuchen …“
„Genug Schlafzimmer habe ich jedenfalls“, feixte er und spielte vor Ungeduld mit dem Gaspedal. „Ich könnte unsere ganze verdammte Crew da unterbringen.“
Darrell lachte ausgelassen. „Ich fass es immer noch nicht, dass du dir dieses riesige Anwesen geangelt hast. Du mutierst noch zu Bruce Wayne und wirst größenwahnsinnig.“
„Ich bitte dich! Ich habe absolut nichts mit diesem Typen gemein! Na ja, nichts bis auf das viele Geld, das gute Aussehen und die Schwäche für Frauen im Allgemeinen. Aber ich hasse Fledermäuse.“
„Oh man, du bist so was von Bruce Wayne! Du solltest dringend mal die Filme sehen.“
„Als hätte ich Zeit fürs Fernsehen? Mit wem glaubst du, redest du grade?“
„Jake O’Reiley, arrogant, selbstverliebt und vollkommen überheblich …“
Er grinste breit und entblößte dabei gerade weiße Zähne. „Und jetzt kommen wir zu meinen schlechten Eigenschaften …“ Er lehnte sich zurück und presste Zeige- und Mittelfinger auf den Mund, während er auf den nächsten Seitenhieb seines PR-Managers wartete.
„Bester und jüngster Rennfahrer der Welt … keiner kann besser mit Autos umgehen als du, und dennoch hast du eine Orientierung wie eine Bockwurst.“
„Das liegt nur an diesem verdammten Arsch der Welt …“, ätzte Jake, während er langsam losfuhr.
„Du solltest dir die Batman-Filme mal von Anfang an ansehen. Zeit genug hast du jetzt jedenfalls“, schlug Darrell vor.
Der Boden war bereits gefroren, doch wenn es etwas gab, das Jake konnte, dann war es bei den ungewöhnlichsten Wetterverhältnissen Auto zu fahren. „Werde ich – sobald Anderson meine Fernsehanlage in Gang gebracht hat. Was soll ich nur bis März mit mir anfangen?“
„Entspann dich endlich mal, Jake. Genieß die Ruhe und die stressfreie Zeit. Vielleicht kannst du mal den Wagen deines Dads reparieren. Das wäre doch die Gelegenheit.“
Jake brummte wenig begeistert. „Ich werde sicher ganz mit diesem alten Haus beschäftigt sein. Anderson hat mich bereits vorgewarnt!“
„Anderson geht auch als Butler durch … Mensch, ich hab da die Idee! Du musst einfach eine Party schmeißen, zur Einweihung, am besten verknüpft mit einem Motto.“
„Hey, du bist zwar mein PR-Berater, aber du hast mir gerade was von einer Auszeit erzählt, erinnerst du dich?“
Die Stimme seines Freundes überschlug sich förmlich, wie immer, wenn er einem guten Einfall auf der Spur war. „So eine Gelegenheit muss man beim Schopfe packen, Jake!“
„Die Verbindung bricht ab, ich höre dich gar nicht mehr …“, entgegnete er und lächelte.
„Ich weiß genau, was du gerade machst … Du kannst dich warm anziehen, wenn du jetzt einfach auflegst!“
„Dazu musst du dich deinen Dämonen stellen und mich erst mal besuchen kommen. Ich lege jetzt auf! Feier gut ins neue Jahr, Mate.“ Er drückte die Auflege-Taste der Freisprechanlage am Lenkrad seines ganz brandneuen Aston Martin. Der Schnickschnack des Wagens gefiel ihm, wobei er daran zweifelte, dass er all diese Funktionen je brauchen würde. Er fummelte an der Einstellung des Navigationsgerätes herum und folgte den Anweisungen, während ihm der starke Schneefall weiterhin die Sicht nahm.
***
Die Feiertage waren geradezu dahingeschlichen, und Emily sehnte sich nach der Betriebsamkeit des Alltags, der sie nicht zur Ruhe und zum Nachdenken kommen ließ. Plötzlich blickte sie auch bei Tageslicht auf den Stuhl ihr gegenüber, der leer blieb. Das Problem war nicht, dass sie allein war, es war so schrecklich, dass sie ohne Collin war. Sie hatten sicher ihre Probleme miteinander gehabt, aber eben auch einen gemeinsamen Plan für ihre Zukunft. Die Zukunftsaussichten waren für Emily nun in weite Ferne gerückt, und sie hatte kein Ziel mehr.
Sie zog ihren roten Mantel und die cremefarbene Wollmütze an, die sich von ihren dunklen Haaren deutlich abhob. Den passenden Schal wickelte sie um den Hals und warf einen letzten Blick auf den leeren Platz zurück. Es war, als könnte sie sehen, wie er dort saß, in der Zeitung blätterte und seinen Kaffee trank. Er lächelte ihr zu, und Emily konnte nicht anders, als traurig zurückzulächeln. Dann verließ sie die Wohnung und ging über den schmalen Flur hinunter ins Erdgeschoss, wo ihr Vaters wohnte. Dieses Haus hatte bereits ihren Großeltern gehört, doch seit ihr Großvater gestorben war, lebte ihre Granny mit Tante Harriet in Stockholm. Elvis dröhnte ihr im Flur entgegen, eine der Platten, die ihr Vater so sehr liebte. Er hörte sie nicht oft, weil die Lieder ihn an ihre Mutter denken ließen. Also wurde nicht nur Emily gerade von Erinnerungen heimgesucht. Sie klopfte zweimal und wartete geduldig, bis die Musik verstummte, dann trat sie durch die Tür mit der Buntglasscheibe.
„Dad?“, rief sie, während sie über Mozzi stieg, ihre bereits in die Jahre gekommene Jagdhündin. Emily bückte sich nach diversen Kleidungsstücken und wunderte sich über die Unordnung im Wohnzimmer ihres alten Herrn. Da tauchte er auch schon in ihrem Blickfeld auf, und sie sah, wie er eilig gebrauchtes Geschirr einsammelte.
„Hey Emily, schön, dass du noch vorbeischaust. Bist du nicht bei Mary?“
Es war Silvester, und wie jedes Jahr gab ihre Schwester in ihrem Caf#é# eine Silvesterparty. Das gesamte Dorf tauchte dort gegen vierundzwanzig Uhr auf. Mary lud ihre Geschwister immer zum Feiern ein, wobei daraus in der Regel ein arbeitsreicher Abend wurde, denn was tat man nicht alles, wenn die Kellner total unterbesetzt waren, um der Schwester zu helfen?
„Doch, ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Was ist hier überhaupt los?“
Ihr Vater sah ertappt aus und rümpfte die Nase, als er eine gebrauchte Socke über einem Teller anhob. „Was meinst du?“, fragte er scheinheilig.
„Dad, es riecht streng. Ist hier etwa eine Bombe eingeschlagen?“
„Darüber macht man keine Witze, junges Fräulein, wie oft soll ich dir das noch sagen?“ Als Polizeichef verstand ihr Dad bei solchen Äußerungen keinen Spaß und ließ das auch jeden wissen.
„Na gut! Warum sieht es hier so … chaotisch aus? Wo ist Mabel?“ Es war nicht zu leugnen: Robert Carhill war ein Schwein, zumindest was die Hausarbeit anging. So ordentlich er auch in seinem Job war, so wenig behielt er das in seinem Privatleben bei. Deswegen hatte er seit Jahren eine Haushaltshilfe, die mittlerweile beinahe zur Familie gehörte.
„Mabel hat sich das Bein gebrochen, als ihr Nachbar vergessen hat zu streuen. Der Vollidiot.“ Missbilligend rümpfte ihr Vater die Nase.
„Was? Ach Gott, die Arme, das ist ja schrecklich.“
Er schüttelte streng den Kopf. „Nicht wahr? Wie du siehst, stürzt es mich ins völlige Chaos."
Emily lächelte amüsiert. „Ich meinte Mabel, Dad. Sie hat eindeutig das schlechtere Los von euch beiden gezogen, oder meinst du nicht?“ Er wirkte leicht zerstreut, als er das benutzte Geschirr in die Küche zurückbalancierte. Eilig nahm sie ihrem Vater die Tasse ab, die zu fallen drohte, und trat durch die Schiebetür in die Küche. Emily traf fast der Schlag, und sie blieb abrupt stehen, als sie das Chaos auf der Küchenanrichte betrachtete.
Ihr Vater suchte verzweifelt nach einem letzten freien Platz auf dem Herd und sah seine Tochter ziemlich hilflos an. „Ich bin ein klassischer Junggeselle, oder? Da fällt meine Haushälterin mal aus, und bei mir bricht alles zusammen.“
Emily kicherte über seine bekümmerte Miene und brach schließlich in lautes Gelächter aus. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Weißt du was, Dad, mich beunruhigt eher, dass du einen ganzen Haufen Kinder hast, die zum Teil noch im selben Haus wohnen und nicht bemerken, wenn ihr Vater in seiner Unordnung untergeht.“ Sie stellte die Sachen auf den Boden und zog ihre Jacke, den Schal und die Mütze wieder aus. „Pass auf, wir regeln das zusammen, damit du morgen nicht verhungern musst.“
„Du wolltest doch zu Mary?“
„Du brauchst meine Hilfe dringender – glaub mir.“ Dann krempelte sie die Ärmel hoch und begann damit, Spülwasser einzulassen. „Außerdem hat Mary noch Nina und die Hilfskellner. Die kommen erst mal alleine klar.“ Emily war es manchmal ein Rätsel, wie ihr Vater es geschafft hatte, fünf Kinder allein großzuziehen, wo er fast unfähig schien sich um sich selbst zu kümmern. Sie beobachtete ihn heimlich, wie er unbeholfen das Geschirr zusammenräumte. Er war auch mit seinen annähernd sechzig Jahren ein Mann, der allein mit seinem Auftauchen einen ganzen Raum voller Menschen verstummen lassen konnte. Er hatte eine eindrucksvolle Größe, breite Schultern und keinen Bauchansatz. Auch wenn es ewig her war, dass Emily ihren Vater ohne Hemd gesehen hatte, wusste sie doch, dass er kein Gramm Fett zu viel am Körper trug. Er war stets darauf bedacht gewesen, ausreichend Sport zu treiben, damit er weiter dieses ungesunde Zeug in sich hineinstopfen konnte, das er so liebte.
Als Polizeichef war er das Oberhaupt der ortsansässigen Polizei und im ganzen Dorf und wahrscheinlich darüber hinaus bekannt. Die Leute sahen respektvoll zu ihm auf und fühlten sich dank seiner Anwesenheit beschützt. Wenn es ein Problem gab, dann wendeten sie sich an „Chief Carhill“, wie die Anwohner von Jarbor Hydes ihn seit vielen Jahren liebevoll nannten, und ihr Vater ging in dem Job auf. Sobald er auf die Straße trat, war er im Dienst, auch wenn er seine Schicht bereits hinter sich hatte. Es war seine Berufung, sich um diesen Ort und die Menschen hier zu kümmern, hatte er immer gesagt, und als Erwachsene erkannte Emily, dass es stimmte. In Kindertagen war ihr Vater schlicht der Held gewesen, den sie alle in ihm gesehen hatten. Er hatte diese Rolle geliebt bis zu dem Tag, an dem er anstelle von Collin vor ihrer Tür gestanden hatte, um ihr die schlimmste Nachricht ihres Lebens zu überbringen. Sie erinnerte sich nur vage an den Ausdruck in seinen Augen: Selbsthass, Trauer und Verzweiflung, dass er sein Mädchen nicht vor diesem Kummer hatte bewahren können.
Für einen Mann seines Alters hatte er sich noch ziemlich gut gehalten. Sein blondes Haar war zwar von einigen grauen Strähnen durchzogen, was es noch heller erschienen ließ, und war so lang, dass er es über die kahle Stelle am Hinterkopf nach hinten streichen konnte. Sein Schnurrbart war voll, und die eisblaue Farbe seiner Augen war Marys und Lucies so ähnlich. Seine großen Hände tätschelten ihre Schulter unbeholfen, und Emily blickte in seine Augen, deren liebevoller Ausdruck nur für seine Kinder bestimmt war. „Keine Ahnung, was ich ohne euch täte?“
„Du würdest noch viel mehr von diesem ungesunden Fleisch in dich hineinstopfen und dir die Adern damit verfetten und einsam, dafür mit mehr Nerven, früher sterben“, ertönte eine Stimme hinter ihnen, die sie nur zu genau kannten. Es war Lucie, die sich mit hochgezogenen Augenbrauen umsah.
„Hey, ich tue alles dafür, dass es mir nichts anhaben kann, Lucie“, wehrte er ihre Stichelei ab.
„Das glaubst auch nur du – als wärst du unverwundbar! Was ist denn hier los? Gab’s ein Sondereinsatzkommando oder eine Razzia in deiner Wohnung, Dad? Hast du etwa wieder heimlich die Asservatenkammer geplündert?!“ Sie lachte über ihren eigenen Witz.
„Von wem du deinen Humor geerbt hast, wird mir immer ein Rätsel bleiben, mein Kind! Wer weiß, ob der Milchmann …“ Robert Carhill stöhnte und rollte mit den Augen, was Emily zum Lachen brachte. „Zur Hölle noch mal, Lucie. Du klingst wie ein Oberfeldwebel und erinnerst mich sehr an Granny. Mabel ist krank.“
„Ich habe von der Besten gelernt - danke Granny. Also das erklärt natürlich einiges, um nicht zu sagen alles. Dann gehe ich euch hier mal zur Hand.“
„Und Mary?“
„Ach sie hat doch noch Luke und Nina. Wofür bezahlt sie die schließlich?“, bemerkte Lucie spitz.
„Ob das jemals reicht?“,
„Dann muss sie halt noch ein paar Kellner engagieren. Sie verlässt sich immer viel zu sehr auf uns.“
Lucies Worte erinnerten Emily daran, dass das Verhältnis ihrer Zwillingsschwestern sehr angespannt war. „Das tue ich aber auch“, wandte Emily nach einer kurzen Pause ein und sah ihrer Schwester bedeutsam in die Augen, während sie einen gespülten Teller abtrocknete und ihr reichte. Lucies Blick wurde weicher, und sie streckte die Hand aus, um Emily übers Haar zu streichen.
„Darüber bin ich sehr froh.“
Gemeinsam bewältigten sie das Chaos, während ihr Vater zu seiner Schicht aufbrach und seine Mädchen einen Moment lächelnd dabei zusah, wie sie redeten und lachten. Robert Carhill hatte das absolut Beste für seine Kinder getan, ganz einfach, indem er sie bekommen hatte. Denn solange sie zusammen waren, würden sie irgendwie klarkommen.