Sehr geehrte Miss Donahue,
wir danken Ihnen für die Vorstellung Ihrer Demo-CD, aber leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass eine Anstellung als Songwriterin in unserem Unternehmen nicht in Frage kommt. Ihr Musikkonzept passt leider nicht zu unserer Firmenphilosophie. Wir wünschen Ihnen dennoch viel Erfolg und weiterhin alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
A. R. Reynolds
Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Autodach und die Straßen, so stark, dass das Wasser nicht mehr abfließen konnte. Alles war matschig und durchweicht, so dass niemand freiwillig das Haus verließ. Zumindest nicht, ohne Gefahr zu laufen, bis auf die Unterwäsche nass zu werden und sich einen schlimmen Schnupfen einzufangen. Niemand außer einer jungen Frau mit teils blonden, teils pinkfarbenen Haaren, einem Nasenpiercing und blau lackierten Fingernägeln, an denen sich der Lack langsam ablöste. Lizzy Donahue war schon immer unkonventionell veranlagt gewesen. Mangelndes Selbstbewusstsein hatte man ihr bisher nie vorwerfen können. Das hatte sie aber auch nicht viel weiter gebracht.
Sie knüllte das Antwortschreiben der letzten Produktionsfirma zusammen und warf es in die chaotischen Tiefen ihres Wagens. Es war hoffnungslos. Sie saß in ihrem alten, verbeulten „Terminator“, der nur klägliche Laute von sich gab, und hatte längst aufgegeben, ihn starten zu wollen. Sie hätte auf ihren Bruder hören und ihn endlich ein neues Auto für sie kaufen lassen sollen, aber ihr Stolz hatte es ihr unmöglich gemacht. Das und eine gewisse Zuneigung zu dem alten Wagen. Ein wenig Sentimentalität war nach den vielen gemeinsamen Jahren, in denen er sie treu durch England chauffiert hatte, schließlich erlaubt.
Sie saß also vom Regen völlig durchgeweicht im Trockenen ihres Autos. Ihre Jeansjacke, der Pullover und das Shirt darunter waren so nass, dass sie ihre Kleidung hätte auswringen können. Das war in diesem Moment jedoch ihre geringste Sorge. Ihr Blick glitt zur Rückbank. Das Auto war über und über mit ihren Sachen vollgestopft. Ein Karton stapelte sich auf dem nächsten, und in die blauen Säcke hatte sie in aller Eile ihre Klamotten gesteckt. Es war typisches Septemberwetter, vor allem für London. In Falmouth war der Regen besser zu ertragen, weil man dabei zusehen konnte, wie das Grün dadurch wucherte und die schönsten Blumen erblühen ließ. Hier in London hingegen war alles grau, trist und eintönig. Die Innenstadt lockte nicht länger mit ihrem Glamour, und Lizzy fragte sich langsam, was sie bewogen hatte hier herzuziehen.
Da fiel ihr Blick auf die heruntergeklappte Sonnenblende, wo ein Bild von ihr selbst und ihrer besten Freundin Mia hing. Sie strahlten beide um die Wette, und Lizzy musste bei der Erinnerung an diesen schönen Tag lächeln. Daneben hing ein weiteres Bild, von dem ihr ein pausbäckiges Baby entgegenstrahlte, das fröhlich auf seiner Faust herumlutschte. Da wusste Lizzy wieder, was sie nach London gebracht hatte. Sie hätte Mia unmöglich allein ziehen lassen können.
Die Freundschaft zu Mia ging weit über eine normale Freundschaft hinaus. Sie war ihr ganzer Halt in Falmouth gewesen, und Lizzy hatte sich nicht vorstellen können, in einer Stadt ohne Mia zu leben. Sie waren gemeinsam aus den Windeln in die Stöckelschuhe gewachsen, und nichts hatte sie je trennen können. Wie hatte Mia es ausgedrückt? Kein Unwetter, keine Naturkatastrophe und schon gar kein Kerl würde sie jemals entzweien. Und so hatte Lizzy es gehalten. Völlig selbstlos hatte sie ihr Leben in Falmouth aber auch nicht aufgegeben.
Sie hatte sich selbst in die Großstadt gewünscht, um dort ihren Träumen näherzukommen. Sie hatte von einer großen Karriere als Songwriterin geträumt und hätte nie im Leben gedacht, dass sich das so schwierig gestalten könnte. Nicht in einer Stadt wie London und mit ihren Beziehungen.
Doch genau darin hatte ihr Denkfehler gelegen. Gerade in London gab es viele arbeitslose Songwriter, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Und auch wenn ihr Bruder Nic in der Musikbranche erfolgreich war, so wollte sie doch als eigenständige Künstlerin wahrgenommen werden. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, die Hilfe ihres großen Bruders auszuschlagen? Ihr Stolz. Sie wollte keine Almosen, kein neues Auto und schon gar keine Hilfe bei ihrer Karriere. Sie wollte es allen beweisen. Ihr Blick glitt zum Beifahrersitz, wo Pebbles sie aus ihren kleinen Knopfaugen irritiert beäugte.
„Und nun? Hast du eine zündende Idee?“ Sie sah auf die dunkle Straße hinaus und flüsterte: „Ich bin für alle Vorschläge offen.“
Natürlich gab die Schildkröte neben ihr keine hilfreiche Antwort, und um ehrlich zu sein, hätte Lizzy sich höchstens selbst einen Krankenwagen gerufen, wenn sie es getan hätte. Sie stieß ihren Hinterkopf gegen die Kopfstütze und fluchte ungehalten. Noch nie hatte sie sich so gefühlt, so hilflos und verängstigt. Seit sie vor eineinhalb Jahren nach London gekommen war, war nichts so gelaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Noch nicht einmal ansatzweise. In ihrem Heimatort Bodwin und auch in Falmouth war alles einfach gewesen. Sie hatte ihre Familie im Rücken gehabt und keinen Schritt ohne Mia gemacht.
Natürlich gab es da Mia und ihren Bruder, die sie jederzeit aufnehmen würden. Allerdings hatten die zwei ihre eigenen Schwierigkeiten, und Lizzy wollte sich nicht wie ein Klotz am Bein fühlen. Es hatte sich viel im Leben ihres Bruders und ihrer besten Freundin verändert, und sie freute sich für sie. Aber sie bekam manchmal automatisch das Gefühl, nicht dazuzugehören. Dieses Gefühl konnte sie so gar nicht gebrauchen. Sie war Elizabeth Donahue. Sie gab nicht bei der ersten Schwierigkeit auf. Oder auch bei den ersten zehn Schwierigkeiten. Nein, sie war weder am Verhungern noch schwer krank. Nur dann würde sie zu Hause zu Kreuze kriechen.
Sie brauchte aber einen Platz zum Schlafen. Vor einer Stunde hatte ein Polizist an ihre Windschutzscheibe geklopft und freundlich gefragt, ob sie Hilfe bräuchte. Seitdem sie ihn abgewimmelt hatte, war der Streifenwagen noch zweimal an ihr vorbei gefahren. Lizzy konnte schwören, dass er beim dritten Mal wieder bei ihr klopfen würde. Sie zog ihr Handy heraus und öffnete ihr Portemonnaie. Darin befanden sich noch etwa zwanzig Pfund, und die mussten sie bis zu ihrer nächsten Übernachtungsstelle bringen. Es fiel ihr nur ein Mensch ein, den sie, ohne sich allzu schlecht zu fühlen, um Hilfe bitten konnte. Sie rief ein Taxi und wartete.
Das Taxi setzte sie keine halbe Stunde später vor der Haustür einer schicken Wohngegend in Mayfair ab. Sie kam sich in dieser feinen Gegend fast schäbig vor und wäre am liebsten mit ihren blauen Säcken und der Schildkröte unter dem Arm zurück ins Taxi geklettert. Aber sie hatte ihr letztes Geld für die Fahrt ausgegeben, und ihr blieb wirklich keine Wahl. Entschlossen trat sie auf das Tor zu, öffnete es und ging hindurch. Sie suchte nach dem entsprechenden Schild und drückte auf den Klingelknopf. Gespannt wartete sie, doch es tat sich nichts. Sie klingelte erneut, allerdings ohne Erfolg. Mutlos sackte sie auf den Stufen zusammen. Sie hätte ihn vorher anrufen sollen. Dann hätte sie allerdings riskiert, dass er sie am Telefon abwimmelte, und das wollte sie gar nicht erst zulassen.
Plötzlich ertönte in der Gegensprechanlage eine verschlafene Stimme. „Hallo?“
Sie rappelte sich erleichtert auf und fragte unverblümt: „Hast du etwa schon geschlafen?“
„Lizzy?!“, sagte die gleiche Stimme vollkommen perplex.
„Du hast echt schon gepennt“, stellte sie verblüfft fest.
„Es ist drei Uhr nachts. Sollte man da nicht schlafen?“
„Ich dachte, du wärst so ein wahnsinnig cooler Rockstar und machst jede Nacht zum Tage?!“ Sie grinste und wusste, dass ihn dieses Klischee wahnsinnig machte.
„Bist du hier, um nachzusehen, ob ich mein Rockstarimage pflege?“
Lizzy biss sich unsicher auf die Lippe. „Nicht nur.“ Es herrschte Stille, und sie fragte sich, ob er schon wieder ins Bett gegangen war.
„Was hast du diesmal wieder angestellt?“, seufzte er nur.
Lizzy antwortete nicht und hörte das Knacken in der Leitung. „Liam?“ Sie seufzte ebenfalls, streichelte Pebbles über das Köpfchen und setzte sie neben sich ab. Dann ging plötzlich das Licht im Hausflur an, und Liam Kennedy schlurfte gähnend, nur mit einer karierten Schlafanzughose und einem Unterhemd bekleidet, die Treppe herunter. Er schloss die Eingangstür auf und trat zu Lizzy. Sie war sehr erleichtert, ihn zu sehen, und musste den Impuls unterdrücken, sich ihm in die Arme zu werfen. Als er sie zwischen all den Tüten und Kartons auf den Stufen sitzen sah, schien er auf einmal hellwach. Er kratzte sich am Kopf und drückte Zeigefinger und Daumen gegen seine Nasenwurzel.
„Was ist jetzt wieder passiert?“, fragte er resigniert und strich sich übers Gesicht.
Lizzy sah verlegen zu Boden. „Ich bin beinahe unschuldig.“
„Natürlich …“ Die Ironie triefte aus diesem einen Wort und Liams Blick sagte, dass er ihr nicht im Entferntesten glaubte. „Und?“ Dieser Mistkerl kannte sie einfach zu gut und ließ nicht locker.
„Ist das eine Diskussion, die wir jetzt führen müssen?“, fragte sie ungehalten, und Liam verschränkte die Arme vor seiner breiten, tätowierten Brust.
„Wenn ich zwischen den Zeilen lese, schließe ich aus deinem Auftauchen mitten in der Nacht, dass du einen Platz zum Übernachten suchst, und würde mit Ja antworten.“
Lizzy wippte mit dem Fuß und warf dann die Hände in die Luft. „Also gut. Da war diese Party, und der Typ mit der offenen Beziehung entpuppte sich als Freund meiner Mitbewohnerin“, murmelte sie, und Liam reckte sein Ohr in ihre Richtung, damit er auch alles verstehen konnte. Er schüttelte grinsend den Kopf und verkniff sich mit Mühe jeden weiteren Kommentar.
„Und was ist mit meiner Schwester? Warum übernachtest du nicht dort?“, fragte er ernst, obwohl er glaubte, die Antwort bereits zu kennen.
„Nun, weil ich dachte, dass Nic und Mia mit Baby Josh, seinen Zähnen und den wunden Brustwarzen schon genug zu tun haben.“
Liam nickte beinahe verstört, als er sich an dieses seltsame Gespräch mit seiner Schwester erinnerte. Lizzy wusste in diesem Augenblick, dass er sie besser verstand als irgendwer sonst. Es war schwer, einen Platz im Leben junger Eltern zu finden, auch wenn es die allerbesten Freunde waren. Plötzlich drehte sich in deren Leben alles um Windeln, Babystuhlgang und wunde Brustwarzen. Liam dachte auch daran und verzog das Gesicht, was Lizzy ein Lächeln entlockte.
„Ich weiß, was du meinst.“ Liam trat noch nicht zur Seite. „Und du denkst, eine chaotische Tante mit dem Hang, sich und alle im Umkreis von hundert Metern ständig in die verrücktesten Schwierigkeiten zu bringen, würde da nur stören?“ Lizzy sah ihn aus unschuldigen, großen blauen Augen an. „Also hat sie sich gedacht, sie nistet sich lieber bei Onkel Liam ein.“
„So ähnlich“, gab Lizzy achselzuckend zu. Er setzte sich neben sie auf die Stufe und ließ die muskulösen Arme über seine angewinkelten Knie baumeln. „Sagst du ja?“, hauchte Lizzy und warf ihren geflochtenen Zopf über die Schulter.
Er schloss die Augen und ließ keinen Zweifel daran, wie sehr er zögerte, so dass Lizzy ihm einen Rippenstoß versetzte. „Au!“, beschwerte er sich lautstark und sah sie prüfend an. „Bananenschalen gehören in den Müll, wehe du benutzt meinen Rasierer für deine Intimrasuren, und deine Klamotten bleiben im Gästezimmer.“
Überschwänglich fiel Lizzy ihm um den Hals. „Du wirst es nicht bereuen“, sagte sie über die Maßen erleichtert.
„Das tue ich bereits“, brummte er und ergriff den Gegenstand neben ihr. Als das „Ding“ sich bewegte, quietschte er höchst unmännlich und warf es reflexartig Lizzy zu. „Was ist das?“
Lizzy fing Pebbles mühelos auf. „Das ist Pebbles.“ Sie wagte nur zu schmunzeln, schließlich wollte sie ihn nicht in den ersten zehn Minuten gegen sich aufbringen.
„Was ist eine Pebbles?“, rief er Lizzy nach, die mit einer Tüte und dem „Ding“ unter dem Arm schon auf dem Weg nach oben war. „Ich schwöre, es hat mich angesehen“, fügte er unruhig hinzu.
„Hast du etwa Angst vor Schildkröten?“, rief sie durch den Hausflur zu ihm zurück, und so entging ihr Liams verdatterter Gesichtsausdruck.
„Eine Schildkröte. Na klar. In London. Wie konnte ich mich überhaupt wundern? Schließlich hält nur Lizzy eine Schildkröte in London.“ Er schüttelte den Kopf und murmelte leise vor sich hin, während er ein paar von Lizzys Sachen schulterte: „Wie kommt diese Nervensäge nur an eine Schildkröte?“ Dann rief er lauter hinter Lizzy her: „Wie lange wolltest du noch mal bleiben?“
Drei Wochen später
Liam schlug ruckartig die Augen auf. Dieser Geruch! Was war das nur für ein Geruch? Alarmiert setzte er sich im Bett auf und schob den nackten Arm seiner gestrigen Eroberung von sich. Diese bewegte sich nur leicht und zog die Bettdecke über ihre Schulter. Kurz versuchte Liam, sich an den Namen der Frau zu erinnern, gab es aber rasch wieder auf, denn das Piepen des Rauchmelders bestätigte seine Vermutungen. Er sprang eilig in seine Boxershorts und riss die Tür zum Wohn- und Essbereich auf. Rauch schlug ihm entgegen, und er raste in die Küche. Der Qualm drang aus dem Backofen und wurde noch viel schlimmer, als er dessen Tür öffnete. Liam begann wie wild zu husten, ergriff mit den Backofenhandschuhen das Backblech und stürmte auf seine Terrasse hinaus. Er wedelte den Qualm über dem Verbrannten fort und erkannte erst nach einer Weile, was da vor sich hinkokelte. Es war eine Tiefkühlpizza, und sie sah nicht so aus, als könnte man sie noch essen.
Wer machte sich in aller Herrgottsfrühe eine Pizza? Seine Lippen pressten sich aufeinander, und er fluchte ungehalten. Lizzy!
„Was sind denn das für Zustände bei Ihnen, junger Mann?“, empörte sich eine kratzige Frauenstimme. Liam schloss die Augen und wurde sich seiner fehlenden Kleidung bewusst. Es war Anfang Oktober und ziemlich frisch. Das hätte er ertragen wie ein echter Mann. Doch das kommende Gespräch mit seiner Nachbarin war nichts, dem er sich unbewaffnet stellen wollte.
„Mrs. Grayson. Guten Morgen! Wie schön, dass sie schon so früh am Tag die frische Luft genießen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl?“ Er sprach über die Dachterrassenbrüstung zu der alten, adretten Dame mit den perfekt frisierten Haaren auf den Zähnen. Sie sah nicht so aus, als würde sie ihm ernsthaft antworten wollen.
Diesem alten Weib war er seit seinem Einzug vor einigen Monaten ein Dorn im Auge, und das ließ sie ihn bei jeder Gelegenheit spüren. Sie war in den Siebzigern, lebte allein und hatte offenbar mehr Geld als Verstand. Sie echauffierte sich darüber, dass er häufig Frauenbesuch hatte und keinen geregelten Tagesablauf. Dabei bemühte er sich wirklich, seine Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen. Anscheinend gefiel ihr einfach seine Nase nicht. Sie würde nach diesem Morgen wieder was zum Tratschen haben. Mr. Kennedy nackt auf der Terrasse angetroffen … und alles nur wegen dieser Nervensäge. So würde er diese wahnsinnig tolle Wohnung nie kaufen dürfen. Bislang hatte er sie gemietet, aber im Haus waren ständig Stimmen laut geworden, dass er mit seinem Lebensstil sicher keine solche langfristige Wohnsituation wollte.
Liam fluchte leise vor sich hin, wünschte der Nachbarin einen guten Tag und folgte dem steten Piepton. Er stellte den Rauchmelder ab und öffnete anschließend jedes Fenster. Er wunderte sich nicht über das Chaos, das in seiner Küche herrschte. Apfelschalen lagen neben der geöffneten Tee-Box. Die Kaffeemaschine war neu gefüllt worden, doch die Dose mit den Kaffeebohnen stand noch daneben. Haarklammern lagen auf dem Küchentresen neben seiner Zeitung, auf der ein bereits benutzter Teebeutel lag und sie völlig durchweichte und unlesbar machte. Er atmete tief ein, um nicht sofort an die Decke zu gehen.
Und wo war die Chaosstifterin? Liam schnappte nach Luft, als er Lizzy in aller Seelenruhe aus dem Bad kommen sah.
„Elizabeth!“, brüllte er sie an. Sie reagierte nicht und schien erst auf ihn aufmerksam zu werden, als er wild vor ihr herumgestikulierte. Sie holte die Ohrstöpsel aus ihren Ohren und lächelte ihn an.
„Oh, guten Morgen, Dornröschen“, sagte sie mit ironischem Unterton.
„Guten Morgen? Guten Morgen? Im Ernst jetzt?“
Lizzy verfolgte seine wilden Gesten milde interessiert. „Öhm … was soll ich denn sonst sagen? Einen wunderschönen guten Morgen? Angenehme Nacht gehabt?“
Liam ging mit erhobenem Zeigefinger auf sie zu. „Verarsch mich nicht! Was glaubst du, tust du hier?“
Lizzy sah ihn aus ihren großen blauen Augen unschuldig an. „Ich war im Bad?“
„Während du beinahe meine Wohnung in Brand gesetzt hättest? Oder meine Wohnung in eine Müllhalde verwandelt hättest? Und noch schlimmer, mich vor der gesamten Nachbarschaft zum Volldeppen gemacht hast?“
Lizzy roch die verbrannte Luft und sah die geöffneten Fenster. „Oh nein, der Ofen. Den hatte ich total vergessen“, sagte sie kleinlaut.
„Vergessen? Wie kann man vergessen, dass man Hunger hat? Oder diesen Geruch nicht wahrnehmen?“
„Ich hatte eine Idee für einen Song und war so in Gedanken …“
Liam war fuchsteufelswild und fuhr sich durch sein lockiges, dunkles Haar, so dass es schon bald seltsam von seinem Kopf abstand. Lizzy musste ein Kichern unterdrücken, weil er so wütend war und gleichzeitig so witzig aussah.
„Innerhalb von Stunden verwandelst du meine Wohnung in ein völliges Chaos. Ich weiß genau, als ich gestern Abend gegangen bin, war alles aufgeräumt. Wie schaffst du das nur?“
Lizzy schüttelte lächelnd den Kopf und ging um ihn herum auf die Küchenzeile zu. Dort hing ein Pullover von Liam, den sie sich geborgt hatte und ihm nun zuwarf. „Hast du eine Ahnung, wie seltsam du aussiehst?“ Liam fing ihn mühelos auf und schaute Lizzy verdattert nach. Er sah an sich hinunter und zog schnell den Sweater über den Kopf.
„Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragte er dumpf unter dem Pullover hindurch.
Lizzy hob eine Augenbraue. „Ich wusste nicht, dass ich vor Gericht stehe.“
Liam schloss genervt die Augen und ließ den Kopf hängen. „Ich erwarte eine Antwort, Elizabeth Donahue.“
„Darf ich meinen Anwalt anrufen?“
„Lizzy, ich mein es ernst.“
„Dein zweiter Vorname ist Ernst, Liam.“ Um diese Aussage zu untermalen, rollte sie mit den Augen. Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank, stellte sie unter den Kaffeevollautomaten und drückte die entsprechende Taste. Der Kaffee verströmte einen angenehmen Duft, und Lizzy suchte nach dem Zucker und einem Löffel, während Liam sie fassungslos ansah.
„Wieso sollte ich dich weiter hier wohnen lassen, wenn ich noch nicht mal eine Antwort bekomme?!“
„Mir steht aber auf jeden Fall ein Anruf zu. Da bin ich mir ganz sicher. Vor jedem Verhör darf der Verdächtige jemanden anrufen. Das hab ich bei CSI gesehen.“
Liam stützte sich theatralisch auf den Küchentresen und vergrub das Gesicht in den Händen. „Womit hab ich das nur verdient?“
„Vorher sag ich kein Wort“, meinte sie grinsend und summte eine Melodie vor sich hin. So war das immer. Liam wusste ganz sicher, dass er recht hatte, doch dann tat Lizzy das. Sie redete so lange Unsinn, bis er nicht mehr wusste, warum er recht gehabt hatte. Diese Frau trieb ihn in den Wahnsinn.
„Störe ich bei irgendwas?“, fragte eine andere Stimme und erinnerte Liam endlich wieder daran, dass sie nicht allein waren. Eine hochgewachsene Blondine stand mit verschränkten Armen vor ihnen, und Liam konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er gestern an ihr so anziehend gefunden hatte. „Wo bin ich denn da Schräges reingeraten? Ehekrach?“ Liam machte einen undeutlichen Laut, als hätte er sich verschluckt.
„Nun, Schatz? Möchtest du es ihr erklären, oder darf ich?“, fragte Lizzy betont spitz, was Liam zur Verzweiflung brachte.
„Es ist nicht das, wonach es aussieht“, sagte er kleinlaut. Die Blondine blickte bedeutungsschwanger auf Lizzys nackte Beine. Sie trug ein viel zu großes Hemd und hatte nur einen Slip an.
„Das ist es ja nie“, warf Lizzy wenig hilfreich ein und genoss das Schauspiel.
„Du wolltest ohne Anruf nichts mehr sagen!“ Er deutete mit dem Finger auf Lizzy, die ihm ungerührt eine Tasse Kaffee reichte.
„Ich bin dann mal weg“, sagte die Blondine zickig und marschierte an ihm vorbei. Liam wusste nicht mal, warum er sich um sie bemühte. Die Frau bedeutete ihm nichts. Sie eilte mit geschulterten Sachen zum Ausgang, kreischte einmal laut auf und schrie: „Was ist das für ein Ding?“
„Pebbles“, antwortete Lizzy und machte keine Anstalten, der Fremden zur Hand zu gehen. Liam lief vor Wut wieder rot an und folgte der Frau. Lizzy hörte etwas wie „Was sind das nur für Zustände hier?“ und rührte weiter in ihrem Kaffee.
Dann hörte sie Liam mit samtweicher Stimme sagen: „Nochmals guten Morgen, Mrs. Grayson.“ Die Wohnungstür knallte zu, und Liam kam wie eine Dampflok schnaubend in den Wohnbereich zurück. Er hielt Pebbles weit von sich fort und stampfte mit jedem Schritt so fest auf, dass sie ihre Gliedmaßen eingezogen hatte. „Uhrzeittiere haben in meiner Wohnung nichts zu suchen. Sie sind schlicht und ergreifend nicht erwünscht.“
„Da hätte Sophie aber sicher etwas dagegen“, entfuhr es Lizzy, und sie wusste, sie war nur eine Haaresbreite davon entfernt, ihn zu sehr zu ärgern. Aber es machte einfach zu viel Spaß.
„Sie bleibt in deinem Zimmer.“
„Ihr ist dort langweilig.“
„Uhrzeittier. Dein. Zimmer. Sonst. Tierheim.“
„Es ist kaum zu glauben, dass du und Mia tatsächlich Geschwister seid.“
Auch wenn es kaum möglich zu sein schien, aber Liam wurde noch wütender. „Was hat all das mit meiner Schwester zu tun? Du bist in meiner Wohnung, isst aus meinem Kühlschrank, und statt dich nur so zum Dank ordentlich zu verhalten, fackelst du beinahe meine Wohnung ab.“
Für einen Moment schlich sich eine Verletzlichkeit in Lizzys Augen, die Liam innehalten ließ. „Morgen bin ich weg. Ehrenwort!“ Damit wandte sie sich um, ergriff Pebbles und verschwand im Gästezimmer.
Liam blieb zurück, und auch wenn er sich Lizzys Auszug schon öfter gewünscht hatte, als er zählen konnte, fühlte er sich bei dieser Ankündigung kein bisschen besser. Er fühlte sich eher wie ein Arsch. Er griff nach seinem Becher und trank einen Schluck. Überrascht hielt er inne. Er enthielt genau die richtige Mischung aus Kaffee, Milch und Zucker. So, wie er ihn immer trank.