Prolog
„Frauen sind mutiger, als wir Männer!“
Nic Donahue spricht exklusiv über seine Frauen!
Der gefeierte Jungstar erscheint beinahe eine halbe Stunde zu spät an unserem
Treffpunkt im Hotel Savoy – lässig gekleidet, unrasiert, mit einer RayBan-Sonnenbrille und unglaublich charmant. Auch wenn sein Look leger ist und an den meisten jungen Männern einfach nur
gewöhnlich wirken würde, so trieft doch aus jeder seiner Poren Testosteron. Kurz gesagt: Er ist megasexy! Und das habe wohl nicht nur ich inzwischen bemerkt. Jede britische Frau zwischen sechzehn
und sechzig scheint diesem so sensationell lächelnden Mann verfallen zu sein. Als er mich entdeckt, begrüßt er mich verschmitzt grinsend mit Küsschen rechts und Küsschen links. Es ginge zu weit,
wenn ich beschreiben würde, wie seine Bartstoppeln meine Wange streiften und wie mich das in diesem Augenblick kribbelig gemacht hat, aber lassen Sie es sich gesagt sein: Er riecht auch noch
unglaublich gut!
Nic: Entschuldigen Sie meine Verspätung, ich hatte so viele Termine heute Morgen, und in London ist es um die Zeit beinahe unmöglich, gut durch den Verkehr zu kommen.
Seine Entschuldigung wird von einem schiefen Lächeln begleitet, und er greift zu dem Cappuccino, der extra für ihn bereitgestellt wurde.
Nic: Fettarmer Cappuccino mit Süßstoff. Es ist schließlich auch für einen Mann nicht einfach, seinen Körper in Form zu halten. (Er grinst breit und zwinkert mir lässig zu.)
Die junge Frau, die in diesem Boulevardblättchen las, stieß einen verächtlichen Ton aus. Sie dachte an die Abende mit Nic vor dem Fernseher, an denen sich die Pizzakartons auf ihrem Bett gestapelt hatten. Sie hatten sich nie für ein Gericht entscheiden können und daher immer gleich mehrere bestellt. Sie hatte Nic noch nie einen Cappuccino trinken sehen. Er mochte seinen Kaffee schwarz mit drei Stückchen Zucker. Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie den Kopf schüttelte und sich wieder der Frauenzeitschrift widmete.
Nach einigen Minuten können wir beginnen. Nic Donahue, der Leadsänger der momentan angesagtesten britischen Rockband, widmet nun seine gesamte Aufmerksamkeit meinen Fragen.
JM: Nun, Mr. Donahue …
Nic: Bitte nennen Sie mich Nic.
JM: Gut, Nic … Wie war Ihr Tag?
Nic (streckt sich in seinem Sessel): Na ja, ich bin seit vielen Stunden unterwegs und habe letzte Nacht nur knappe drei Stunden geschlafen … sagen wir einfach, ich sehne mich nach einem langen und ausgiebigen Bad.
JM: Sind das die Schattenseiten des Starlebens?
Nic: Glauben Sie das? Nein, ich denke, das ist nun mal mein Job. Sehen Sie, ein Arzt im Krankenhaus arbeitet nicht selten achtundvierzig Stunden am Stück, eine Kellnerin steht oft bis in die frühen Morgenstunden im Pub, vor allem wenn die Swores da sind. (Er lacht und reibt sich übers Gesicht. Dann fährt er fort.) Ich denke, das nennt man schlicht und ergreifend Arbeit. Wobei mein Job wohl der bestbezahlteste und leichteste ist, den ich mir vorstellen kann.
JM: Glauben Sie, dass Ihnen der Erfolg zufällt?
Nic: Oh nein, ich denke nicht, dass jeder so einfach einen guten Song schreiben könnte oder mit dem Druck der Öffentlichkeit fertigwerden würde. Wir haben jahrelang unsere Tapes eingeschickt, und nie zuvor hatte es eine positive Rückmeldung gegeben. Wir haben hart daran gearbeitet, dass ich heute hier mit Ihnen zusammensitzen kann. Doch mal ehrlich: Mein Job ist von der Verantwortung her der leichteste, den ich mir vorstellen kann. Ich will mir gar nicht ausmalen, welcher Druck auf einem Arzt lastet, der im OP steht und den die Herzmaschine mit diesem fiesen Piepton daran erinnert, dass er um ein Menschenleben kämpft. Wissen Sie, dieser tragische Moment, wenn die Kamera bei Grey’s Anatomy das entsetzte Gesicht des Arztes zeigt, bevor er mit der Herzmassage beginnt. Ich fürchte, diese Art von Druck ist in keiner Weise mit meinem zu vergleichen.
JM: Sie haben viele Folgen von Grey’s Anatomy gesehen? Das überrascht mich jetzt doch etwas.
Nic: Nun ja, ich habe zwei Schwestern und wurde oft von meiner besten Freundin genötigt, diese Serie zu verfolgen. Aber mal ehrlich, gegen Patrick Dempsey hat niemand eine Chance. (lacht)
JM: Und welcher Art von Druck ist eine Kellnerin ausgesetzt? Diese Frage steht zwar nicht auf meiner Liste, aber es interessiert mich brennend, was Sie dazu zu sagen haben …
Nic: Ich gebe Ihnen ein paar Minuten mehr, damit ich Ihnen diese wichtige Frage beantworten kann … Haben Sie jemals einer Meute wilder Kerle gegenübergestanden, die völlig betrunken waren und sich mit Stühlen und Stehtischen bewarfen? Sie brauchen ein gewisses Maß an Mut und noch mehr Verantwortungsgefühl, um sich da als Frau einzumischen und behaupten zu können. Das soll nicht heißen, dass ich einer Frau das nicht zutraue, ganz im Gegenteil. In meinem Leben gibt es einige Frauen, die mich tagtäglich davon überzeugen, dass Frauen nicht nur mutiger sind als wir Männer, sie sind auch selbstloser …
JM: Nun, ich verstehe, was Sie meinen … aber da Sie es schon selbst ansprechen, und ich wage zu behaupten, dass diese Frage unsere Leserinnen am meisten interessiert, wie dürfen wir uns diese mutigen Frauen in Ihrem Leben denn vorstellen?
Nic: Sie sind tatsächlich sehr an dieser Frage interessiert, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat … Meine Mutter ist beispielsweise so eine wundervolle Frau, meine Schwestern ebenso. Sie sind tough und auf eine nervtötende Art und Weise ziemlich verbissen. (lacht) Aber ich bin sehr dankbar für ihren Rückhalt und ihre Unterstützung. Ohne sie wäre ich sicher nicht der geworden, der ich heute bin.
JM: Die Art Frau hatte ich eigentlich nicht gemeint. Es spekulieren viele Leute über Ihr Liebesleben, und bislang hat man noch kein offizielles Statement von Ihnen dazu gehört. Gibt es denn eine Frau in Ihrem Leben, Nic?
Nic: Wenn ich bisher dieser Frage ausgewichen bin, wieso glauben Sie, dass ich es diesmal nicht wieder tun werde?
JM: Weil Sie meinem Charme nicht widerstehen können und ich Sie ganz nett gefragt habe? Es gibt Gerüchte, dass Sie das It-Girl Melanie Green daten? Stimmt das?
Nic: Wollen Sie nun wissen, ob es eine Frau in meinem Leben gibt oder ob diese Frau Melanie Green sein könnte?
JM: Vielleicht gibt es ja auf beide Fragen dieselbe Antwort?
Nic: Nein, gibt es definitiv nicht! Aber eins kann ich Ihnen sagen, Melanie und ich daten uns nicht.
JM: Zugegeben, das war ein geschickter Schachzug. Aber wenden wir uns wieder Ihrer Karriere zu. Sie haben mit den Swores Gold und Platin für Ihr erstes Album bekommen. Wie geht es nun weiter?
Nic: Wir werden in den nächsten drei Monaten eine kleine Clubtour durch Amerika machen … danach geht es dann zurück ins Studio, wo wir unser nächstes Album aufnehmen werden. Wir haben schon einige neue Songs dafür geschrieben. So viel darf ich Ihnen bisher verraten. Mal sehen, was sich dabei ergeben wird …
Seufzend schlug sie die Zeitung zu und schloss die Augen. Drei Monate! Es war doch verrückt, dass er ihr in jedem Interview ein Zeichen hinterließ. Nic wollte nicht, dass seine Familie und Freunde diese Zeitungen lasen und die Berichte über ihn und die Band verfolgten, doch sie konnte einfach nicht widerstehen und glaubte, dass er das ganz genau wusste. Warum warf er ihr sonst Brotkrumen hin, als wollte er sie tadeln und mit erhobenem Finger verspotten. „Patrick Dempsey … Pfft …“, murmelte sie leise und blickte über den Campus.
„Honey, du hast es versprochen“, hatte er einmal vorwurfsvoll zu ihr gesagt, als sie ihn auf ein Interview angesprochen hatte. Danach hatte sie nie wieder ein Wort darüber verloren. Sie konnte ihn gut verstehen. Er wollte, dass seine Lieben ihn so betrachteten wie vor dem großen Erfolg. Ihr Urteil über ihn sollte nicht durch blöde Zeitungsartikel verfälscht werden. Im Laufe der letzten vier Jahre hatte sich so viel für ihn verändert, dass er sich wenigstens seiner Heimat und seiner Freunde sicher sein wollte. Doch das wurde zunehmend schwieriger für sie alle.
Sie erhob sich und schlenderte vom Unigelände. Die Zeitschrift warf sie in den nächsten Papierkorb. Es war jedes Mal dasselbe. Als wäre man auf Diät und ginge in einen Süßwarenladen. Man rang so lange mit sich, bis man eines der wahnsinnig leckeren Pralinenbouquets gekauft und auf einmal hinuntergeschlungen hatte, danach fühlte man sich einfach nur elend und versuchte krampfhaft, alle Spuren zu beseitigen. Doch die Waage log niemals, ebenso wenig wie die Traurigkeit, die die junge Frau jedes Mal überkam, wenn sie sein Gesicht in den Hochglanzmagazinen betrachtete und seine Worte las.
Kapitel 1
„Emilia Sophie Kennedy!“ Ihr Name drang mit erstaunlicher Kraft über die drei Etagen zu Mia durch. Sie seufzte entnervt auf. Dieser Ton machte deutlich, dass ihre Großmutter ihr leergeräumtes Zigarettenversteck entdeckt hatte. Mia musste ein Grinsen unterdrücken, während sie den Kohlestift beiseitelegte.
„Was zum Teufel habe ich dem lieben Herrgott nur angetan, dass er mich mit so einer nichtsnutzigen Enkelin straft?“, donnerte es lautstark zu ihr hinauf. Ihre Großmutter Sophie schien heute blendender Laune zu sein.
„Himmel noch mal“, murmelte Mia und pustete sich eine dunkle Locke aus der Stirn. Wie oft würde sie diese Diskussion noch führen müssen, und wie konnte man in diesem Alter nur so unglaublich starrsinnig sein? Diese Momente zeigten Mia wieder einmal, dass ihre liebevolle, stets um sie besorgte, beinahe dreiundsiebzig Jahre alte und leicht exzentrische Großmutter wesentlich uneinsichtiger war, als sie es als Teenager je gewesen war.
Sie wischte die von Kohle schwarz gefärbten Finger an ihrer Kleidung ab. Die dunkelblaue Latzhose, die ihr viel zu groß war und deren Träger ihr ständig von den Schultern rutschten, hatte schon einige künstlerische Phasen zusammen mit ihr durchlebt. Sie war über und über mit bunten Farben, Sprays und etlichen anderen Dingen bedeckt. Es hatte lange gedauert, bis ihre Mutter Celine sie davon überzeugen konnte, nicht in ihren guten Kleidern zu malen. Nur weil Celine irgendwann nicht mehr bereit gewesen war, ständig neue Kleider zu kaufen, hatte Mia schließlich nachgegeben. Im Nachhinein musste sie über ihre eigene Vehemenz schmunzeln. Ganz so einfach hatte sie es ihrer Familie als Teenager dann auch wieder nicht gemacht. Aber war das nicht der eigentliche Sinn der Teenagerzeit?
„Emilia! Ich weiß, dass du mich hören kannst! Setz dich in Bewegung, oder erwartest du, dass ich die verdammte Leiter hochklettere?“
Mia wusste, dass nichts auf dieser Welt Sophie davon abhalten konnte, ihr eine ordentliche Strafpredigt zu halten. Sie strich sich die widerspenstige Haarsträhne entschlossen hinters Ohr und hinterließ dabei einen schwarzen Strich auf ihrer Wange. Eigentlich war sie froh über die Ablenkung. Heute wollte ihr einfach nichts gelingen. Ihre Entwürfe gaben aus irgendeinem Grund nicht das wieder, was Mia im Kopf herumspukte. Eines dieser Kreativlöcher … Ihre Chefin wäre alles andere als begeistert, wenn sie ohne brauchbare Entwürfe bei ihr aufkreuzen würde.
Mia sah sich kurz in ihrer Dachkammer um und warf einen Blick in den Spiegel. Dort hingen allerlei gemalte Bilder und Fotos aus vergangenen, glücklichen und unbeschwerten Tagen. Sie lächelte wehmütig beim Anblick ihrer Freunde und ihrer Familie. Wie hatte sich ihr Leben nur in so kurzer Zeit so sehr verändern können? Sie hielt einen Moment inne und schluckte den Kloß im Hals hinunter.
„Emilia!“, donnerte es nun drohend von der unteren Etage, und Mia gab nach. Sie wollte nicht, dass Sophie gezwungen war, die Leiter zum Dachboden hinaufzuklettern.
„Ich komme ja schon!“, rief sie genervt und stapfte durch die Dachluke nach unten.
„Das will ich dir auch geraten haben, junges Fräulein!“, erwiderte ihre Großmutter barsch. Deutlich aus der Puste und dennoch wild entschlossen, verschnaufte Sophie am oberen Treppenabsatz. In der Dachluke erschienen nun ein paar schlanke, nackte Füße, gefolgt von der restlichen zierlichen Gestalt ihrer Enkelin. Auf Sophie Kennedys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Mias langes, dunkles Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, und im Sonnenlicht, das durch die großen Dachfenster hereinfiel, schimmerten kastanienbraune Strähnen darin. Das von Kohle geschwärzte Gesicht sah aus wie das eines Schornsteinfegers. Doch darunter versteckten sich sanfte und hübsche Gesichtszüge, ganz die ihrer Mutter. Emilia war ziemlich klein, doch dank ihres Temperaments machten nicht viele den Fehler, sie zu unterschätzen.
Sophie liebte diesen Wirbelwind von ganzem Herzen. Auch wenn sie es ihr nicht oft genug sagte, bewunderte sie ihre Enkelin sehr dafür, dass sie sich mit einer alten Schachtel wie ihr abgab. Mia war chaotisch, rechthaberisch und sehr, sehr liebenswert. Und ein Dickkopf. Eine echte Kennedy eben. Emilia konnte nur wenigen Menschen eine Bitte abschlagen. Und so kam es, dass Sophies zweiundzwanzigjährige Enkelin in den Semesterferien zu Hause lebte, ihre kleine Cousine beaufsichtigte und ein Auge auf ihre Großmutter hatte, anstatt selbst eine tolle Reise zu unternehmen oder zumindest ordentlich auf den Putz zu hauen.
Um Emilias Aufenthalt für sie so angenehm wie möglich zu machen, ließ Sophie keine Gelegenheit aus, hitzige Wortgefechte mit ihr auszutragen. Es machte einfach zu viel Spaß, einen ebenbürtigen Gegner um sich zu haben. Unter Sophies Altersgenossen gab es davon leider nur noch wenige, oder sie waren nach dem kleinsten Meinungsaustausch bereits eingeschnappt. Das war sehr ermüdend, und Sophie langweilten die Kaffeeklatschfahrten und Bingoabende mit lauwarmem Tee, der sie die ganze Nacht aus dem Bett trieb. Es ging doch nichts über einen ordentlichen Scotch oder ihren berühmten selbstgebrannten Schnaps. Gott sei Dank gab es noch Charlotte und Martha in ihrem Dorf. Ein paar alte Schachteln, die einen klassischen Skatabend inklusive Sophies Selbstgebranntem nicht zu verachten wussten. Doch ihre Wortgefechte mit Emilia waren kaum zu überbieten, und Sophie wollte diese nicht missen. Das herausfordernde Blitzen in den Augen ihrer Enkelin bewies, dass es ihr ebenso ging.
„Warum schreist du das ganze Haus zusammen, Granny?“
Sophie musterte Emilia eindringlich mit vorwurfsvollem Blick. „Du weißt genau, dass ich es hasse, ‚Granny‘ genannt zu werden! Sehe ich etwa wie eine aus?“
Nein, das tat sie tatsächlich nicht. Ihre grauen Haare waren zu einem flotten Kurzhaarschnitt frisiert, und die leicht stämmige Gestalt wirkte alles andere als gebrechlich. Ihre Kleidung war ausgefallen, doch in Wahrheit war es Sophies Art, die einen einfach überzeugte. Sie war brüsk, offen, unhöflich und oft gnadenlos ehrlich, was viele zu schätzen wussten.
„Wo sind sie, Mia?“, fragte sie aufgebrachter, als sie eigentlich war.
„Was meinst du, Sophie?“ Mias unschuldige Miene war nur ein halbherziger Versuch, ihr weismachen zu wollen, dass sie keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
„Du freche Göre weißt ganz genau, was ich meine! Ich will eine rauchen, und scheinbar hast du dich an meinem Vorrat vergriffen.“ Empörung schwang in Sophies Stimme mit, und Mia unterdrückte einen Lachanfall.
„Ich habe keine Ahnung, Sophie! Meinst du, ich muss mir ernsthaft Sorgen machen?“, neckte Mia sie mit einer Anspielung auf ihre Vergesslichkeit.
Sophie stemmte eine Hand in die Hüfte und fuchtelte wild mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor Mias Nase herum. „Werd ja nicht frech, du Göre. Du bist mir einiges schuldig! Zigaretten kosten ja schließlich auch Geld.“
„Ich bin mir keiner Schuld bewusst, Granny. Vielleicht waren es ja die Heinzelmännchen“, schlug Mia mit einem Augenzwinkern vor. „Außerdem dachte ich, du hättest vom Arzt die Anordnung bekommen, nicht mehr zu rauchen? Man kriegt von Zigaretten Lungenkrebs. Ist dir das eigentlich klar? Erst vorgestern hast du mir weismachen wollen, du wärst abstinent.“ Ein weiterer halbherziger Versuch, Sophie dazu zu bringen, an ihre Gesundheit zu denken. Mia sah sie herausfordernd an, erntete jedoch nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Na, dann wär hier wenigstens mal was los!“, schnaubte Sophie und ging gar nicht weiter auf das Argument ein. Resigniert fragte sie: „Die Heinzelmännchen?“ Sie holte tief Luft, um noch etwas hinzuzufügen, stieß sie allerdings ungenutzt wieder aus.
Sie schwiegen sich kurz an, dann sagte Sophie: „Heinzelmännchen wären gar nicht so schlecht für das Chaos, das du hier überall verbreitest. Erst neulich habe ich deinen Schlüssel im Kaffeeschrank gefunden.“
Mia zuckte nur mit den Achseln. Sie war nun mal chaotisch. Das hatte sich nicht geändert. Ihr Vater hatte immer die Krise bekommen, wenn sie morgens mit Zahnbürste im Mund ihre Schulbrote schmierte oder mit ihren Hausschlappen auf dem Weg zur Schule in seinem Auto gesessen hatte. So war sie eben. Ganz die Tochter ihrer Mutter. Eine Künstlerin mit wenig Sinn für Ordnung und Gradlinigkeit, dafür aber mit erheblicher Lebensfreude.
„Vielleicht helfen die dir ja auch beim Abwasch?“ Mia grinste breit, während Sophie ihr leicht in den Arm knuffte. „Hey!“, beschwerte sie sich, lächelte aber. Nichts von ihren Streitereien war wirklich böse gemeint. Es peppte nur ihrer beider Alltag auf. Mia stemmte die rechte Hand in die Hüfte, ganz ähnlich wie es zuvor Sophie getan hatte. „Ich würde übrigens mal nach deinem Fusel gucken, wer weiß, ob sie den nicht auch schon gefunden haben.“
„Man sollte dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen!“, schimpfte Sophie. „Du bist schlimmer als deine Mutter, Beatrix und dein Bruder zusammen!“
„Und trotzdem schaffst du es innerhalb kürzester Zeit, deinen Vorrat erneut aufzustocken. Ich dagegen werde wieder Tage brauchen, um das neue Versteck zu finden, Granny.“ Mia legte eine Hand sanft auf die ihrer Großmutter, mit der diese sich am Geländer festhielt, und lachte. „Außerdem … von wem habe ich diese Beharrlichkeit wohl geerbt?“
„Na, von mir bestimmt nicht!“, erwiderte Sophie brüsk und wandte sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das gerade an ihren Mundwinkeln zupfte. Allein um Mias Lebendigkeit und den Glanz in ihren Augen zu sehen, erfand sie immer wieder neue Herausforderungen für ihre Enkelin.
Das Kennedy-Haus war selten so leer wie im Moment. Allerdings gab es keinen Platz auf der Welt, an dem sie lieber gewesen wären. Sie lebten in einem verträumten Dorf namens Bodwin ganz in der Nähe der Stadt Falmouth. Es war ein malerischer Ort, der im Sommer grün und voller bunter Blüten war. Für die ländliche Idylle zahlten sie nur einen geringen Preis. Falmouth und die nächsten größeren Geschäfte lagen lediglich etwas über eine halbe Stunde entfernt. Mia lebte nur während der Semesterferien in ihrem Elternhaus und genoss die Vorzüge eines ruhigen Lebens in dieser Zeit sehr. Während ihres jetzigen Besuchs sah Sophie jedoch eine gewisse Ruhelosigkeit an ihrer Enkelin, die ungewöhnlich für sie war.
Sophie seufzte, als sie an den seltsamen, leeren Blick in Mias Augen dachte, wenn diese sich unbeobachtet fühlte. Da war ein Winkel ihres Herzens, den ihre Mia gut verschlossen hielt: die Sehnsucht nach der Freiheit, die jedem Menschen in diesem Alter zustand – und in ihrem besonderen Fall war nicht die Freiheit der ganzen weiten Welt gemeint.
Schon Emilias Vater war hier in Bodwin geboren und aufgewachsen, und auch wenn er für einige Zeit in Frankreich studiert hatte, so hatte ihn doch immer starkes Heimweh geplagt, für das er sich als erwachsener Mann sicher geschämt hatte. Dieses kleine malerische Dorf an der britischen Küste hatte seinen ganz eigenen Charme. Die Nachbarschaft hockte sich zwar ziemlich auf der Pelle und ging sich regelmäßig auf die Nerven, und doch war es gerade diese Gemeinschaft, die es fertigbrachte, dass man sich nirgendwo mehr zu Hause fühlte als hier. Die sanfte Meeresbrise und das viele Grün waren für die Touristen ein Traum, und auch die Bewohner wussten das alles zu schätzen. Emilia war ebenfalls von dem Heimweh betroffen. Es zog sie nicht hinaus in die weite Welt, abgesehen vielleicht von der einen oder anderen kurzen Reise. Doch ihr Leben war hier und holte sie immer wieder zurück. Während Emilias Freunde und Studienkollegen sich amüsierten, regte sich in Sophies Enkelin ein Gewissen, das größer nicht hätte sein können.
Gott sei Dank war da noch Lizzy, Mias beste Freundin und Nachbarin. Eine Chaotin der ganz besonderen Art, weswegen sie hervorragend zu Mia passte. Doch die Verantwortung für ihre Familie lastete schwer auf Mias Schultern. Das war etwas, das ihr Vater Alan ihr vermacht hatte. Es gab kaum einen Menschen, um den er sich nicht gesorgt oder gekümmert hatte.
Vor drei Jahren hatte Celine ihren Ehemann und Sophie ihren Sohn zu Grabe tragen müssen. Dieses Loch, das er im Herzen aller hinterlassen hatte, wurde nie wieder richtig gefüllt, und Celine litt unter dem Verlust ihres Liebsten so sehr, dass sie es kaum länger als ein paar Wochen in ihrem gemeinsamen Zuhause aushielt. Sie hatte einen neuen Lebensinhalt gefunden und bereiste nun die Welt.
Im Hause Kennedy lebten drei Generationen zusammen, und meistens bestanden diese nur aus Frauen. Celine Kennedy, Mias und Liams Mutter, war Sophies innig geliebte Schwiegertochter. Celines Schwester Bea wohnte seit ihrer Scheidung vor ein paar Monaten mit ihrer kleinen Tochter Haley ebenfalls bei ihnen. Momentan betrachteten Celine und Bea Elefanten unter der Sonne Afrikas und hatten es Mia überlassen, sich um Haley und Sophie zu kümmern. Durch Celines immer häufigere Abwesenheit fühlte Mia sich mehr und mehr verpflichtet, hier die Stellung zu halten.
Doch Sophie war nicht damit einverstanden, dass Mia ihre Jugend dafür opferte, regelmäßig zu Hause zu bleiben, damit Celine vor ihrer Trauer flüchten konnte. Auch wenn Mia vielleicht hierher gehörte, so hatte sie doch mehr verdient, als ein trostloses Leben neben einer alten, verrückten Schreckschraube wie ihr zu führen. Es war Mias Zeit, Abenteuer zu erleben, Fehler zu machen und das Leben zu genießen. Sie war zufrieden, da war Sophie sich vollkommen sicher. Doch war sie viel zu jung, um bloß zufrieden zu sein. Ihre Augen sollten vor Lebensmut glänzen und vor Glück funkeln.
Ein mittlerweile auch selten gesehener Gast war Liam, Mias drei Jahre älterer Bruder. Er war mit seiner Band, den Swores, in der ganzen Weltgeschichte unterwegs. Im Moment bestand seine einzige Aufgabe darin, seinen weiblichen Fans den Atem zu rauben, die Nächte mit Alkohol, seinen Bandkollegen und zahlreichen Models sowie wichtigen Persönlichkeiten zu durchzechen und hin und wieder einige Songs zu schreiben.
Mia war diejenige, die sich schlussendlich um alles kümmerte, während der Rest der Kennedys sich in der Welt herumtrieb. Sie war ein wahrer Schatz für diese so zerbrochene Familie.
Sophie seufzte bei dem Gedanken daran, was sie in Wahrheit für diese Menschen alles tat. Man konnte es mit einem unsichtbaren Band vergleichen, das sich fest um die einzelnen Familienmitglieder, ihre Geschichten und all die Emotionen geschlungen hatte und sie zu gegebener Zeit wieder zueinanderführen würde. Sie war immer für Sophie da, und auch wenn diese es nicht gern zugab, so war Mia doch unersetzlich für sie geworden. Seit nun die fünfjährige Haley in ihrem Haus lebte, noch viel mehr. Mia kümmerte sich um ihre kleine Cousine, als wäre sie ihr eigenes Kind. Auch wenn Sophie selbst immer großspurig sagte, dass sie selbst schon genügend Kinder großgezogen hatte, musste sie doch zugeben, dass niemand diesen kleinen Wirbelwind so gut im Griff hatte wie Mia. Leider blieb ihr eigenes Leben dabei auf der Strecke, was allerdings niemandem so recht aufzufallen schien. Scheinbar noch nicht mal ihr selbst.
„Geh und wasch dich gefälligst, du Schmutzfink! Gleich gibt es Essen. Das heißt, wenn Haley dort unten nicht eine kleine Katastrophe hinterlassen hat“, wies Sophie nun ihre Enkelin an.
„Haley oder du?“ Mia streckte ihrer Großmutter die Zunge heraus, salutierte und sagte, während sie sich auf den Weg ins Bad machte: „Zu Befehl, Ma’am!“ Wie aufs Stichwort drang der unangenehme Piepton des Rauchmelders zu ihnen hoch. Erstaunlich schnell verließ Sophie, höchst undamenhaft und überhaupt nicht ihrem Alter entsprechend, fluchend die Treppe, während Mia sich wusch und umzog. Sie legte keinen Wert auf Markenkleidung, dazu fehlte ihr auch schlicht und ergreifend das Geld. Sie trug viel aus Secondhandläden, von Walmart und nicht zuletzt ihre eigenen Kreationen. Das wollte sie nun auch zu ihrem Beruf machen. Sie studierte Modedesign an der Uni in Falmouth. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihre Haare wieder mal nicht zu bändigen waren. Sie löste daher den Zopf und kämmte sie mit den Fingern, wodurch einzelne Locken entstanden. Mia hasste ihr Haar. Nie war es möglich gewesen, eine schicke Frisur zu machen, wie Lizzy es bei sich gern tat. Mia beneidete ihre Freundin schrecklich darum. Immer sah sie anders aus. Sie experimentierte mit Farbe, ob kurz oder lang. Doch Mias wilde Mähne neigte zur Krause und kringelte sich schon beim kleinsten bisschen Luftfeuchtigkeit.
Ihr Blick fiel wieder auf die Fotos, die am Rahmen des großen Spiegels befestigt waren. Im Moment waren alle wichtigen Menschen in ihrem Leben auf Reisen, und jedes Mal holte Mia eine unsägliche Leere ein, die von Mal zu Mal größer zu werden schien. Seit dem Tod ihres Vaters waren ihre Mutter und ihr Bruder rastlos geworden, und auch sie verspürte eine wachsende Sehnsucht nach etwas, das sie selbst nicht in Worte fassen konnte.
Ihre Mutter und ihre Tante Bea erkundeten vier Wochen lang Afrika, während ihr Bruder Liam und Nic mit ihrer Band in den USA durch die Clubs tourten. Und sie? Sie kämpfte sich durch den Alltag und kam sich oft klein und unbedeutend vor, während die anderen von ihren besonderen Erlebnissen berichteten. Sie sollte ein Mittel gegen Aids oder Krebs erforschen und damit ihrem Leben Bedeutung verleihen. Leider hatte sie nie die Begeisterung ihres Dads für Medizin geteilt. Vielleicht hätte sie Polizistin werden und wenigstens für Gerechtigkeit sorgen sollen. Aber für besonders mutig hielt sie sich auch nicht. Ganz davon abgesehen, dass ihr dafür eine riesige Portion Fitness fehlte. Sicher war sie nicht völlig untrainiert, denn sie tanzte Ballett und gab regelmäßig Unterricht, doch sie war meilenweit davon entfernt, in dieser Richtung erfolgreich zu sein.
Eigentlich gab es nicht viel, was sie besonders gut konnte. Sie war in jeder Hinsicht chaotisch. Ihr Zimmer war unordentlich, mit den viel zu vielen Büchern, Klamotten oder Stofffetzen, die überall herumlagen, und nicht selten hatte sie sich schon auf ein Nadelkissen gesetzt. Ihre Schlüssel fand sie nie rechtzeitig, sie verschlief regelmäßig, und nie hatte sie alles für ein anständiges Abendessen da. Sie schrieb sich Einkaufszettel, ja wirklich, doch die vergaß sie in der Uni oder im Auto oder, oder, oder …
Doch eins konnte sie ziemlich gut: zeichnen. Schon als Kind war sie ein Naturtalent gewesen. Ihre Eltern hatten ihr die besten Kunstlehrer bezahlt, um dieses Talent zu fördern und ja nicht zu vergeuden. Das hatte ihre schlechten Noten in Mathe oder Biologie aber auch nicht wettmachen können. Nun war sie dabei, ihr Hobby zum Beruf zu machen und Kleidung zu entwerfen.
Momentan absolvierte sie ein Praktikum für ihr Studium bei Cathleen Harding. Sie war eine tolle Designerin, allerdings für gediegenere Mode, was es Mia und Cathleen oft schwer machte, auf einen Nenner zu kommen.
Ihr Blick fiel auf das Foto von ihrem Bruder und einem jungen Mann, der schief grinste. Nic … Wie lange war es nun her, dass sie zuletzt mit ihm gesprochen hatte? Durch die Zeitverschiebung waren es seltene Anrufe geworden, und mit jedem verstreichenden Tag wurde die Einsamkeit um sie herum unerträglicher. Früher hatte sie seine Abwesenheit schon als verstörend empfunden, doch in den letzten Monaten wurden seine Aufenthalte in Bodwin immer seltener und kürzer. Domenic Donahue war seit beinahe vier Jahren mit seiner Band ein Stern am Musikhimmel. Er war der beste Kumpel und Bandkollege ihres Bruders, der Bruder ihrer besten Freundin Lizzy, ihr Nachbar und ihr allerbester Freund.
Das Foto zweier Teenager auf einem Motorroller, die ausgelassen lachten, hing in ihrer Blickhöhe. Ein gut aussehender Junge mit graublauen Augen, verstrubbeltem, dunkelblondem Haar und dem ersten Bartschatten grinste frech in die Kamera und umfing Mia, nur in einer deutlich jüngeren Ausgabe.
Mittlerweile war aus Nic ein erwachsener Mann geworden. Ihre Bindung zueinander hatten sie beide nie wirklich erklären können. Seit einiger Zeit war es komplizierter zwischen ihnen geworden, und es schien immer schwieriger zu werden, je öfter sie getrennt waren. Die Zeitungen waren voll von seinen Fotos mit Fans und seinen Begleiterinnen. Mia empfand seither eine ständig stärker werdende Traurigkeit, denn sie wusste, eines Tages wäre er unerreichbar für sie. Er würde in Amerika leben, weil er dort viel mehr Erfolg hätte als hier, und seine Besuche mussten zwangsweise seltener werden. Letztendlich würde er womöglich eine Frau treffen, die diese Nähe zwischen ihnen nicht tolerieren wollte. Mia konnte das verstehen, denn auch ihre Freunde hatten diese Verbundenheit nicht ertragen können. Schlussendlich waren ihre Beziehungen alle daran zerbrochen. Alle bis auf eine …
Seufzend legte Mia ihre Kleidung für die späteren Ballettstunden heraus. Um sich für ihr Studium etwas nebenher zu verdienen, gab sie in den Semesterferien einen Ballettkurs für Kinder und Jugendliche. Hin und wieder arbeitete sie auch für Jeff, dem die beliebteste Bar in Bodwin gehörte. Ihr Bruder verdiente zwar genug, um locker ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können, sie fand den Gedanken, ihrer Mutter und Liam auf der Tasche zu liegen, jedoch schrecklich. Außerdem liebte sie es, in Jeffs Bar oder mit den Mädchen zu arbeiten.
Mia band ihr Haar im Nacken zu einem Knoten und bändigte die losen Strähnen mit einem Haarband. Mit geschulterter Tasche hüpfte sie die Stufen zur Küche hinunter und sah das Chaos. Die Eingangstür und alle Fenster standen sperrangelweit auf ebenso wie die Tür des Backofens, aus dem es stark rauchte. Der Auflauf war verkohlt, und Mia griff auf dem Weg zur Küche schon zum Telefon. Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm sie Sophie in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und gab sich dem Versuch hin, zu retten, was zu retten war: Sie rief beim Pizzaservice an.